Die gewerkschaftlich organisierte Kampfbewegung ist charakterisiert durch die Tendenz zur Rückeroberung der Flächentarifverträge und ihrer Errungenschaften, der umfassend geregelten Arbeitsbedingungen.
Ob es darum geht, nach jahrelangem Lohnverzicht im Tarifkampf eine wirkliche Reallohnerhöhung zu erreichen oder darum, Errungenschaften aus den Flächentarifverträgen für Teile der Beschäftigten zurückzuerobern – wie z.B. im öffentlichen Dienst die Errungenschaften des BAT; ob es um den Kampf gegen die sich ausweitende Befristung der Arbeitsverträge geht, oder darum, dass die aus dem Flächentarifvertrag ausgegliederten Beschäftigten sich für ihre Wiederintegration erheben – wie z.B. bei der CFM/Charité in Berlin; oder ob die Kollegen – wie im Falle der Drucker und Journalisten – gegen die Tarifflucht und für die Verteidigung und Rückeroberung ihres Flächentarifvertrags streiken.
Immer neue Teile der prekarisierten Arbeiterschaft, der zu Millionen aus den Tarifverträgen Herausgeworfenen und zu tarifvertragslosen Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnbereich Verurteilten, wollen sich aus diesen entrechteten Verhältnissen befreien und kämpfen für den Tarifvertrag und ihre (Wieder-) Integration in den Flächentarifvertrag.
Für die Organisierung ihres Kampfes suchen und greifen sie nach den Gewerkschaften: ihr Kampf ist ein Auftrag an die Gewerkschaftsführung, ein Mandat, den Kampf aller aus den Tarifverträgen ausgestoßenen Beschäftigten für ihre (Wieder-) Integration in die Flächentarifverträge zu organisieren. Das ist auch der einzige Weg, den starken Platz der Gewerkschaften zurückzugewinnen.
Die Orientierung auf die Errungenschaften der großen Flächentarifverträge ist die „natürliche“ Perspektive besonders für dieses Heer der tarifvertragslosen Beschäftigten und der Jugend in einem Land, in dem das Gerüst der von den Branchengewerkschaften garantierten Flächentarifverträge die Arbeitsverhältnisse im Kern noch bestimmt.
Kann die Kampagne der DGB-Führung für den Mindestlohn ein Beitrag zur Erfüllung jenes Auftrags an die Gewerkschaften sein? Geht das in die gleiche Richtung?
Was bringt der Mindestlohn? Kein Arbeitnehmer, kein Gewerkschafter kann etwas dagegen haben, dass für Millionen Kollegen der Lohn erhöht wird.
Doch mit der Zustimmung zum gesetzlichen Mindestlohn geben die Gewerkschaftsführungen ihr Plazet dazu, dass Millionen Arbeitnehmer mit einem staatlich verordneten Niedriglohn abgespeist werden, weiterhin ausgeschlossen von den grundsätzlichen tarifvertraglichen Regelungen der Arbeitsbedingungen.
Die Kampagne für den gesetzlichen Mindestlohn ist der Richtung und der Perspektive der Kampfbewegung sowohl der in Tarifverträgen erfassten Arbeitnehmer als auch der tarifvertragslosen Beschäftigten entgegengesetzt.
Der von der Großen Koalitionsregierung dekretierte gesetzliche Mindestlohn ist vorgegeben durch die Zwänge der Schuldenbremse, den Druck zur Senkung der Kosten der Arbeit. Und dieser Rahmen ist es, den die Gewerkschaftsführungen mit ihrem Ja zum gesetzlichen Mindestlohn akzeptieren und respektieren.
Von Seiten der Unternehmer und öffentlichen Arbeitgeber dagegen wird selbst gegen diese Brosamen, mit denen die Beschäftigten im Niedrig- und Armutslohnsektor abgefertigt werden sollen, um „Ausnahmen“ gefeilscht.
Denn die Kämpfe für die Rückeroberung der Flächentarifverträge, und die in den Teilkämpfen erstrittenen Reallohnerhöhungen – selbst die zu erwartenden Lohnerhöhungen durch den Mindestlohn: das alles gefährdet die Anforderungen der Schuldenbremse und „wettbewerbsfähiger“ Arbeitskosten oder ist unvereinbar mit ihnen. Umso mehr drängen die Regierung und das Kapital zu allen Arten der Deregulierung, der Flucht aus den Flächentarifverträgen und der Ausweitung von Minijobs. So sind z.B. 42 % aller neuen Arbeitsverträge befristet; hatten 1996 1,3 Millionen Menschen befristete Verträge, waren es 2013 schon 2,7 Millionen.
Ob die Kämpfe für Tarifverträge und Reallohnsteigerungen erfolgreich sind oder nicht, hängt davon ab, ob dieser erpresserische Druck die Gewerkschaftsführungen zurückweichen lässt oder ob es gelingt, die Gebote der Schuldenbremse und der Senkung der Arbeitskosten zu durchbrechen.
So konnten die Beschäftigten im Tarifkampf öffentlicher Dienst (Bund und Kommunen) einerseits mit ihrer Gewerkschaft eine Lohnerhöhung erkämpfen, mit der sie die Schuldenbremse durchbrochen haben. Doch sie konnten nicht die Weigerung der ver.di-Führung verhindern, die Forderung nach Rückeroberung der Errungenschaften des BAT für spezifische Beschäftigtengruppen, gestützt auf die Streikbereitschaft der Kollegen, durchzusetzen. Sie sahen sich vielmehr damit konfrontiert, dass die Gewerkschaftsführung die Warnstreiks vorzeitig abgeblasen hat. Und sie sahen sich ebenso damit konfrontiert, dass die Gewerkschaftsführung es ablehnte, für den Tarifvertrag den Verzicht auf die von den Arbeitgebern angekündigten Kompensationen zu erkämpfen, um die Lohnerhöhungen nicht mit Privatisierungen, weiteren Ausgliederungen, Leistungs- und Stellenabbau nachträglich bezahlen zu müssen.
Die schon Monate andauernden Streikaktionen der Beschäftigten bei Amazon haben bisher die Konzernleitung nicht zwingen können, Verhandlungen über einen gewerkschaftlich garantierten Tarifvertrag aufzunehmen.
Wo ist das Hindernis?
Bis heute hat die ver.di-Führung nicht entschieden, den mutigen Kampf der Beschäftigten von Amazon für einen gewerkschaftlichen Tarifvertrag und die Integration in den Flächentarifvertrag des Einzelhandels durch den Einsatz der Kraft der gesamten Organisation in diesem Kampf zu unterstützen. Obwohl immer mehr Stimmen in ver.di dafür laut werden. Denn das ist Voraussetzung dafür, dass die Streikbewegungen erfolgreich bis zu Ende geführt werden können. Ver.di steht in der Verantwortung: Der Kampf für die (Wieder-)Integration in die Flächentarifverträge kann nicht allein den Kollegen, die in den „tarifvertragsfreien Zonen“, in prekärer Beschäftigung und in Niedriglohnverhältnissen arbeiten, überlassen bleiben.
Das sind Fragen, die bei den Kollegen und in den Gewerkschaften diskutiert werden.
Und es ist eine Diskussion, die auch unter den sozialdemokratischen Gewerkschaftern geführt wird, die sich in der Erhebung der Parteibasis gegen den Gang der SPD in die Große Koalition engagiert haben, weil sie wollten, dass Schluss ist mit der Fortsetzung der Agenda-Politik.
Sie nehmen heute ihren Platz an der Seite der Arbeitnehmer ein, die sich aus Billiglohn- und entrechteten Arbeitsverhältnissen befreien wollen; die mit ihren Gewerkschaften für wirkliche Reallohnerhöhungen, sowie für den Erhalt und die Rückeroberung von tariflich garantierten und gesetzlich geschützten Arbeitsverhältnissen kämpfen und kämpfen wollen.
Im Zentrum dieser Diskussion drängt sich allen die Frage auf, wie die Unabhängigkeit der Gewerkschaften gegen den Druck verteidigt werden kann, unter dem sie der Politik der Großen Koalition unterworfen werden sollen.
Carla Boulboullé
Aus: Soziale Politik & Demokratie Nr. 324 vom 26. Juni 2014
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