Die politische Realität

Die Verabschiedung des Mindestlohngesetzes am 3. Juli im Bundestag wurde von der gesamten SPD-Führung wie den DGB-Gewerkschaftsführungen gefeiert: Der gesetzliche Mindestlohn sei eine „historische Reform“ für die Arbeiterbewegung!

Schon seit Monaten lief die Kampagne der SPD- und Gewerkschaftsführung. Sie verkünden, dass das Mindestlohngesetz der „historische“ Erfolg sei, der den Gang der SPD in die Große Koalition unter Merkel rechtfertigt. Und der alle diejenigen sozialdemokratischen GenossInnen und GewerkschaftskollegInnen Lügen strafe, die sich im Widerstand gegen die Große Koalition engagiert haben: „Mit Merkel kann es keinen Politikwechsel geben!“

So trommelte der DGB Ende März anlässlich der ersten 100-Tage-Bilanz der Großen Koalition: „Erstmals seit langem werden wieder Reformen für statt gegen die Beschäftigten gemacht.“

Und ver.di-Chef Frank Bsirske nach der Abstimmung im Bundestag und Bundesrat: „Wir feiern uns und den gesetzlichen Mindestlohn!“ „Das ist einer der größten sozialpolitischen Erfolge unserer Gewerkschaftsgeschichte … dafür haben wir über zehn Jahre gekämpft“.

Es ist klar, störende Misstöne darf es da nicht geben. Auch nicht der geringste Zweifel daran, dass diese Große Koalition auf dem Weg der „Korrekturen“ an der Agenda-Politik und damit politisch legitimiert ist, darf zugelassen werden.

Im völligen Widerspruch dazu steht die am 3. Juli geäußerte Kritik von Bsirske: „Mit der Vielzahl von Ausnahmen macht die Koalition aus dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn einen löcherigen Flickenteppich“, der „mindestens drei Millionen Menschen“ weiterhin der „Willkür von Hungerlöhnen“ ausliefert.

Und wenige Tage vorher erklärt er: „Das hat mit dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, den die SPD in ihrer Mitgliederbefragung vor der Regierungsbildung zur Abstimmung gestellt hat, nichts mehr zu tun.“ – Und stellt damit den Gang in die Große Koalition selbst in Frage.

Für seine „unsachgemäße”, „völlig überzogene“ Kritik wird er denn auch von der SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi abgekanzelt.

Ähnlich ergeht es Hilde Mattheis, Vorsitzende von DL21, die bis zuletzt gegen den Gang der SPD in die Große Koalition gestanden hat, und in Bezug auf die im Gesetz festgeschriebenen Ausnahmen konstatierte: „Jetzt zeigt sich, dass er (der rote Apfel Mindestlohn) auf der einen Seite verfault ist.“ Andrea Nahles führt prompt eine Offensive gegen diese Störerin an, die im Austritt zahlreicher führender „linker“ Sozialdemokraten aus DL21 mündet.

Warum diese hektischen Reaktionen?

Es war vor allem die Verheißung, dass diese Großen Koalition für die notwendigen „Korrekturen an der Agenda-Politik“ gebraucht wird, die es der SPD-Führung erlaubt hat, den breiten Widerstand in der SPD zu kanalisieren, sowie der Gewerkschaftsführung, ihre Unterstützung für die Große Koalition zu legitimieren.

Doch die, jeglichen Zweifel oder gar Widerspruch erstickende, angestrengt pathetische Charakterisierung des gesetzlichen Mindestlohns als historische Reform für die Arbeiterschaft, die SPD und DGB von der Großen Koalition unter Merkel erkämpft hätten, kann nicht die Realität des Regierungshandelns dieser Großen Koalition außer Kraft setzen.

Da wird die Kaputtsparpolitik gegen Krankenhäuser, Schulen und Universitäten, gegen die Kommunen und die öffentliche Daseinsvorsorge ebenso fortgesetzt, wie die Verschärfung der Flucht aus den Flächentarifverträgen und ihre Zersetzung und die Ausweitung des Heeres prekarisierter Billiglöhner und Minijobber, aber auch die Förderung der Altersarmut und die Demontage des öffentlichen Gesundheitswesens.

Die Lohnerhöhung auf Mindestlohnniveau wiederum kann nicht die zunehmenden Bestrebungen immer neuer Gruppen von Arbeitern stoppen, die für die Eroberung von Tarifverträgen kämpfen.

Das ist die „Erfahrung“, die die Arbeiterschaft, die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung und Jugend, unter der Großen Koalition machen. Und das ist wohl auch der Grund dafür, dass sich nach allen letzten Meinungsumfragen die massive Ablehnung der SPD durch die Arbeitnehmer-Wähler gegenüber der letzten Bundestagswahl 2013 noch zu vertiefen droht.

Mit dem Mindestlohn, so die Argumentation, mit der die Gewerkschaftsführungen ihre Unterstützung der Großen Koalition rechtfertigen, würde endlich Schluss sein mit dem „Lohndumping“.

Tatsächlich aber stimmen die Gewerkschaftsführungen ihrem Ja zum gesetzlichen Mindestlohn einer Politik zu, die den Niedriglohn für Millionen als Normallohnverhältnis legalisiert und zementiert. Ein Teil der Betroffenen sieht sich noch dazu bis 2017 unwürdigen Tarifverträgen mit Mini-Entlohnung (unterhalb des Mindestlohns) ausgeliefert, und die Mehrheit wird mit einem bloßen Lohn abgespeist, ohne den Tarifvertrag und seine Errungenschaften und Schutzbestimmungen. Der gesetzliche Mindestlohn fördert damit den Druck auf die Flächentarifverträge – als Kompensation für die in Folge des Mindestlohns steigenden Lohnkosten.

Dagegen steht die wachsende Bewegung der Arbeitnehmer, die für die Befreiung aus Billiglohn- und tarifvertragslosen Arbeitsverhältnissen für die Rückeroberung und (Re-) Integration in die großen Flächentarifverträge kämpfen, und die für diesen Kampf nach ihren Gewerkschaften greifen.

Vor diesem Auftrag kapitulieren die Gewerkschaftsführungen, die die Große Koalition als eine Regierung „feiern“, die „wieder Reformen für statt gegen die Beschäftigten“ macht: „Wir wollen in den nächsten Monaten den großartigen Erfolg in den Betrieben und der Öffentlichkeit herausstellen…“ (ver.di).

So akzeptiert die ver.di-Führung unter der Respektierung der Schuldenbremse die kompensierenden Einsparungen der Arbeitgeber als Antwort auf im Tarifkampf durchgesetzte Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst. Oder die IG BCE-Führung nimmt es hin, dass allgemeine Lohnerhöhungen durch Abweichungen vom Tarifvertrag, Ausgründungen und Ausgliederungen kompensiert werden und begleitet das.

Die wirkliche „Korrektur“, für die die Kollegen mit ihren Gewerkschaften kämpfen wollen, sind: die Integration aller Millionen Arbeitnehmer in tarifvertragslosen Beschäftigungsverhältnissen, der „modernen Lohnsklaven“, in die für sie jeweils zuständigen Flächentarifverträge. Diesen Kampf zu führen und dafür die gesamte Kraft der Gewerkschaftsorganisation zu mobilisieren, das ist ihr Auftrag an die Gewerkschaftsführungen.

Diese Erfahrungen und die damit verbundenen Fragen werden von Kollegen in den Gewerkschaften aufgeworfen und diskutiert, verbunden mit der Diskussion, wie kann die Unabhängigkeit der Gewerkschaften gegen den Druck verteidigt werden, sie der Politik der Großen Koalition unterzuordnen.

Carla Boulboullé


Aus: Soziale Politik & Demokratie Nr. 326 vom 21. August 2014

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