Die in den beiden größten – rund 6 Millionen Beschäftigte umfassende – Tarifbereichen von der IG Metall und der von ver.di geführten Tarifgemeinschaft unterzeichneten Tarifabschlüsse erzeugten auf beiden Seiten, bei den Gewerkschaftsverantwortlichen wie bei den Vertretern der Arbeitgeber, zufriedene Gesichter. Wobei die Erfolgsbetonung auf Gewerkschaftsseite leicht größer ausfiel und sich auf die Reallohnerhöhung konzentrierte.
Diese Beurteilung durch die Gewerkschaftsführer steht aber im deutlichen Kontrast zu der Stimmung und Diskussion bei den Kollegen in den betreffenden Gewerkschaften, Betrieben und Einrichtungen.
Die IG Metall schließt nach drei Nullmonaten in 2016, für die einmalig 150 Euro gezahlt werden, für die restlichen neun Tarifmonate mit 2,8% ab – was auf das ganze Tarifjahr bezogen nur knapp über 2% ausmacht – und für das 2. Tarifjahr ab dem 1.4.2017 mit einer weiteren Steigerung um 2%. Das ist merklich entfernt von der ursprünglichen 5%-Forderung für ein Tarifjahr.
Die massiven Warnstreiks und die Androhung ganztägiger Streiks reichten vielleicht aus, um die leichte Reallohnerhöhung durchzusetzen. Sie verhinderten aber nicht, dass ein nicht geringer Teil der Beschäftigten in eine Tariflohnerhöhung zweiter Klasse herabgestuft wird.
Erstmalig unterschreibt die Gewerkschaftsführung eine Differenzierungsklausel, nach der für Betriebe mit der Gummibestimmung einer „unterdurch-schnittlichen Ertragslage“ Abschläge vom Tarifergebnis möglich sind: So kann die Einmalzahlung verschoben oder ganz gestrichen und die fällige 2%-Erhöhung am 1.4.2017 um drei Monate verschoben werden.
Diese Differenzierungsklausel wurde von der Kapitalseite ultimativ als „Wettbewerbskomponente“ gefordert, zur Absicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Profits für die betreffenden Betriebe.
Im Unterschied zum seit längerem praktizierten Pforzheimer Abkommen, das Unternehmensleitungen und Betriebsräten Verhandlungen über Öffnungsklauseln per Betriebsvereinbarung ermöglicht, sollen über die neuen Abschläge die lokalen Vertreter des Arbeitgeberverbandes und der Gewerkschaft verhandeln. D.h., die Gewerkschaft als Garant der Allgemeinverbindlichkeit des Flächentarifvertrages für alle Beschäftigten und Betriebe der Branche verhandelt nun selbst für Abweichungen von den Garantien des Flächentarifvertrages und gibt den Kapitalvertretern ein Instrument für die Flucht aus dem Flächentarifvertrag in die Hand.
Das soll ein Instrument auf Dauer werden. Deshalb haben Gewerkschaftsführung und Arbeitgeber eine „Projektgruppe“ gebildet, die dieses Instrument mit den Worten des Verhandlungsführers der NRW-Arbeitgeber, A. Kirchhoff, als „Einstieg in eine neue gewinnbezogene Lohnkomponente im Tarifvertrag“ und für die Schaffung eines „Systems der Variabilisierung der Tarifverträge“ nutzen soll.
Bitter für die Arbeitnehmer und besonders für jeden Gewerkschaftskollegen, wie die Differenzierungsklausel den ungebremsten Beifall im Unternehmerlager findet. Unverständlich bleibt für sie, warum nicht ihre enorme gewerkschaftliche Streikkraft eingesetzt wurde, um die geforderte kräftige Reallohnerhöhung für alle durchzusetzen und jenen Angriff auf den allgemeinverbindlichen Flächentarifvertrag und auf die Einheit der Kollegen zurück zu schlagen.
Dieses Unverständnis wächst angesichts einer Situation, in der die Gewerkschaftsführung aus „Verständnis“ für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmerprofite mit der Differenzierungsklausel neue Fluchtwege aus dem einheitlichen Flächentarifvertrag für alle ermöglicht, während sich hunderttausende Kollegen für die Forderungen „Tarifbindung! und 5%!“ in Warnstreiks mobilisieren.
Die 40 Betriebe, die ohne großen Kampf in den Flächentarifvertrag oder auch nur per Haustarifvertrag in die Orientierung am Flächentarifvertrag zurückgeholt werden konnten, bleiben nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, solange die Gewerkschaft nicht der Massenflucht aus dem Flächentarifvertrag durch Auslagerungen sowie durch Leiharbeit und Werkverträge den Kampf ansagt. Den Kampf, der realistisch allein Aussicht auf Erfolg hat, in dem das stärkste Kampfinstrument eingesetzt wird, über das die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaft verfügen: den gewerkschaftlich organisierten Streik.
Dieser Tarifabschluss löst in der Gewerkschaft Diskussionen aus. Es ist sicher, dass die Kollegen nach diesen Erfahrungen im Tarifkampf noch ihr Wort dazu sagen werden.
Zur genaueren Einschätzung des vorschnellen Tarifabschlusses im öffentlichen Dienst (Bund und Kommunen) und zu den durch ihn aufgeworfenen Fragen gab es mehrere Beiträge in der letzten Nummer der „Sozialen Politik & Demokratie“ und auch auf Seite 5 und 6 in dieser Ausgabe.
In der Industrie und im öffentlichen Dienst hatten die Arbeitgeber, die einen im Namen des Erhalts der Wettbewerbsfähigkeit und die anderen im Namen der Schuldenbremse, nur provozierende „Angebote“ gegen die Forderungen der Arbeitnehmer nach kräftiger Reallohnsteigerung geliefert.
Im öffentlichen Dienst wurde die leichte Reallohnverbesserung durch die Zulassung von Kompensationen an anderer Stelle arg geschrumpft. Vor allem aber wurden die Forderungen im Kampf gegen die immer weiter um sich greifenden Befristungen und Ausgliederungen als auch die Forderungen nach Übernahme der Auszubildenden in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis von der Verhandlungskommission fallen gelassen oder nicht „berücksichtigt“. Wieso, fragen die Kollegen, wird nicht die ganze gewerkschaftliche Kampfkraft, der organisierte Widerstand der streikbereiten Kollegen gegen die fortgesetzte Deregulierung, Tarifflucht und die Zergliederung der Belegschaften eingesetzt?
Wieso delegieren inzwischen alle Verantwortlichen der Gewerkschaften des DGB den Kampf gegen die Tarifflucht durch Leiharbeit und Werkverträge an die Regierung der Großen Koalition und beauftragen sie mit einer Gesetzesinitiative gegen deren „Missbrauch“ für Lohndumping und Tarifflucht? Hat nicht die Große Koalition die Schuldenbremse und Förderung der Wettbewerbsfähigkeit zu den Grundgesetzen ihrer gesamten Regierungstätigkeit gemacht? Prallen nicht alle berechtigten Lohnforderungen der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften mit den Anforderungen dieser Gesetze zusammen? Und werden nicht in deren Namen zur Senkung der Lohnkosten die Tarifflucht, Deregulierung und Prekarisierung, die Privatisierungen und Ausgliederungen vorangetrieben?
Was aus dieser Gesetzesinitiative von Arbeitsministerin Nahles (SPD) geworden ist, dazu legen wir auf Seite 4 einen Beitrag zur Diskussion vor.
Wir laden die Leser dieser Zeitung, Arbeitnehmer und Gewerkschafter ein, sich in Arbeitskreisen zu versammeln, um den Arbeitnehmern und engagierten Gewerkschaftern zu helfen, ihre Organisationen als Kampfinstrumente gegen die Tarifflucht in jeder Form und für die Verteidigung und Rückeroberung des allgemeinverbindlichen Flächentarifvertrags einzusetzen. Carla Boulboullé
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