Die große Koalition und das reale Gespenst der Altersarmut

Aufgeschreckt durch die alarmierenden Appelle aus den Gewerkschaften, vor allem der IG Metall, drängen SPD und Union noch vor den Wahlen zu „Korrektur“maßnahmen bei der Rente.

Die im Rahmen der Agenda-Politik und spezifisch unter dem Diktat der Schuldenbremse vorangetriebene Demontage des gesetzlichen Rentensystems (wie des anderen sozialen Sicherungssystems, der gesetzlichen Krankenversicherung) hat inzwischen mit ihren drastischen Kürzungsmaßnahmen vielfältiger Art eine Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung um ihre bislang „sichere“ und ihrem tarifvertraglich gebundenen Arbeitseinkommen entsprechende Rente betrogen, hat wachsende Teile der Bevölkerung der Altersarmut ausgeliefert und droht über das Millionenheer des Niedriglohnsektors hinaus ganze Arbeitnehmerschichten in diese hinunter zu drücken.

 Dieses sehr reale Gespenst der Altersarmut beginnt zu einem zusätzlichen Motor für die Ablehnung der Großen Koalition zu werden, die schon heute ohne und gegen eine Mehrheit in der Gesellschaft regiert. Hier häuft sich sozialer und politischer Sprengstoff, der nicht nur im Wahlkampfgetöse gezündet werden kann. Jede andere – unausweichlich wesentlich politisch geschwächtere – Regierung wird es nach den bevorstehenden Wahlen im September 2017 unvergleichlich schwerer haben, die Politik der sozialen Demontage gegen den Widerstand der gesellschaftlichen Mehrheit fortzusetzen.

„In dieser Grundsatzfrage (nämlich der Verhinderung eines zu tiefen Falls des Rentenniveaus und einer Explosion der Beiträge, d. Red.)  wäre eine Einigung mit der Union wertvoll“, erklärt der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, Thomas Oppermann, und warnt gleichzeitig vor einem „Wettlauf um unbezahlbare Reformen“ im Wahlkampf.  (Der Tagesspiegel, 27. 10. 16)

Um dem vorzubeugen, ergreift Arbeitsministerin Nahles (SPD) in panischer Eile die Initiative, um dem Gespenst der Altersarmut einen beschönigenden, einen „sozialverträglicheren“ Schleier umzulegen.

Und sie erhält für diese Initiative wertvolle Hilfe durch die DGB-Spitze. Unter dem wachsenden Druck aus der Arbeiterschaft setzt diese darauf, mit den „Korrekturen an der Rentenkatastrophe“ ein Ventil öffnen zu können, bevor alle Dämme brechen.

Denn die DGB-Spitze ist sich des Risikos bewusst, dass sowohl im DGB selbst wie in den Einzelgewerkschaften unkontrollierbare Konflikte aufbrechen können, welche die bisherige Gemeinsamkeit der Führungen der DGB-Gewerkschaften für die grundsätzliche Akzeptierung der Politik der Schuldenbremse gegen die Errungenschaften des Sozialstaates in Frage stellen würde.

Die arbeitende Bevölkerung hat schon bei den beiden ersten „Korrektur“maßnahmen an der Rente, der Mütterrente und der Rente mit 63, ihre Erfahrung gemacht: die von der Großen Koalition verordnete palliative Therapie hat eine „Linderung“ für Wenige auf Kosten der Mehrheit der Beitragszahler und Rentner gebracht. Damit hat sie das Risiko, einer die Lebensqualität bis in die Armut beschneidende Rente zum Opfer zu fallen, auf viele mehr ausgeweitet. (nach Duden-Definition können „Palliative die Beschwerden einer Krankheit lindern, aber nicht die Krankheit selbst und deren Ursachen bekämpfen“).

Die Ursache der Krankheit, deren Bekämpfung nicht zur Debatte steht, ist die Austrocknung der finanziellen Grundlagen des gesetzlichen Rentensystems durch den Angriff der Agenda-Politik auf die Kernerrungenschaft des Sozialstaates: die Zersetzung der allgemeinverbindlichen Flächentarifverträge durch Förderung der Tarifflucht in jeder Form, durch Senkung der Lohnkosten und die Schaffung eines Neun-Millionen Heeres von Niedriglohnjobbern.

Diese zerstörerischen Krankheitsursachen haben die Regierungen seit Schröder mit Kürzungen aller Art, besonders des Rentenniveaus, und mit Teilprivatisierung bekämpft.

Die palliative Therapie gehörte von Anfang an zur Praxis der Große Koalition:

zuletzt u.a. das Gesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen, das trotz einiger Regulierungen Lohndumping und moderne Sklavenarbeit sogar noch fördert und ins Arbeitsrecht einschreibt.

Die Verpflichtung der Großen Koalition – unter dem Druck des Kapitals – auf die beiden Grundgesetze Schuldenbremse/Sparpolitik und Wettbewerbsfähigkeit/Deregulierung verlangt die Zerstörung der sozialstaatlichen Errungenschaften und der Demokratie.

Trotz Unterstützung durch die DGB-Spitze konnte die Große Koalition den trügerischen Inhalt ihrer Korrekturmaßnahmen an der zerstörerischen Agenda-Politik nicht verschleiern.  In dieser Erfahrung gründet die entschiedene Ablehnung ihrer Politik und Parteien durch die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung und Jugend, sowie der anderen „etablierten“ Parteien, die Grünen und Die Linke, die diese Politik in den Ländern und Kommunen mitgetragen und umgesetzt haben. Diese Absage drückt sich aus in der Wahlverweigerung, oder sucht mit der Stimme für die AfD ihren Protest zu signalisieren.

Die Große Koalition ist verschlissen; sie ist ohne gesellschaftliche Mehrheit.  Auch mit ihrer Palliativmedizin gegen die „Rentenkatastrophe“, wird sie den zunehmenden Widerstand gegen die Ausweitung der Rentenkürzung und Altersarmut nicht ausbremsen können. Und das kräftigt den Willen der Mehrheit der Arbeiterschaft und Jugend, dass endlich Schluss gemacht werden muss mit der Demontage des Sozialstaats, des Flächentarifvertragssystems und der sozialen Sicherungssysteme.

Der Versuch der DGB-Spitze, durch Unterstützung von „Korrekturen“ an der Agenda-Politik der Großen Koalition und besonders der SPD politische Legitimation zu verleihen, konnte nicht verhindern, dass sich die Arbeiterschaft in gewerkschaftlich organisierten Kämpfen gegen diese Politik des Kaputtsparens und der Deregulierung immer mehr mobilisiert. Sie konnte nicht den Aufschwung der Klassenkämpfe gegen die „Agenda-Krankheit“ verhindern, gegen Lohnkostensenkung und Tarifflucht… und nicht den Niedergang der SPD

Sie konnte nicht verhindern, dass sich die wachsende Zahl der Arbeitnehmer, die die Politik der Großen Koalition und ihre Umsetzung in den Ländern zu Billiglohn und tariflosem Zustand verurteilt hat, sich mit ihren Gewerkschaften zum Widerstandskampf erheben gegen die Flucht aus den Flächentarifverträgen, gegen Ausgründungen aus den Mutterbetrieben, für die Verteidigung und Rückeroberung der allgemeinverbindlichen Flächentarifverträge – und das, obwohl gewerkschaftliche Streiks gegen die „Freiheit der Unternehmer und öffentlichen Arbeitgeber“ zu solchen „strategischen Unternehmensentscheidungen“ durch Verbot unterdrückt werden.

Carla Boulboullé

 

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