Ein Aufatmen ging nach den Wahlen in den Niederlanden durch alle europäischen Regierungen.
Doch wie sah die Realität aus? Beide Parteien der bisherigen Regierung der Großen Koalition erlitten eine schwere Niederlage: Die stramm rechtsliberale Partei von Rutte (VVD) verlor 8 Sitze (von 41). Die sozialdemokratische Partei (PvdA) stürzte von 38 auf 9 Sitze ab. Die rechtspopulistische Partei von Wilders (PVV) ist mit 20 Sitzen (sie hat fünf dazu gewonnen) zur zweitstärksten Partei aufgerückt.
Wenn dennoch Kanzlerin Merkel, im Einklang mit allen europäischen Regierungschefs, den Wahlausgang ausdrücklich als „proeuropäisches Ergebnis“ begrüßt („Ich glaube, es war ein guter Tag für die Demokratie“) drückt sich darin die große Erleichterung der noch einmal Davongekommenen aus. Sie treibt die große Sorge vor explosiven unkontrollierbaren Entwicklungen, die alle europäischen Länder zu erschüttern droht.
Doch kein „Jubel“ kann darüber hinwegtäuschen, dass sich in den Niederlanden in dem Verlust der Wählerbasis der Großen Koalition die tiefe Ablehnung ihrer Politik ausdrückt, die sich konsequent der Umsetzung einer Agenda-Politik nach Schröders Vorbild verschrieben hat.
Diese Ablehnung und der wachsende Widerstand gegen die sozialzerstörerische Politik ist es, die jetzt die PvdA wie alle sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa in die Existenzkrise gestürzt hat, die zum Brexit geführt hat, wie zum Sturz der Regierung Renzi in Italien.
Und die in Frankreich die Regierungspartei der Sozialisten, eine der zwei Hauptparteien, die über Jahrzehnte das politische Leben in Frankreich bestimmt haben, buchstäblich explodieren ließ und die zweite, die Republikaner, in den Zustand der Zersetzung getrieben hat.
Es ist eine Folge dieser Ablehnung der Agenda-Politik durch die gesellschaftlichen Mehrheiten in allen Ländern Europas, dass die EU und alle europäischen Regierungen, die am 25. März den 60. Jahrestag der Römischen Verträge feiern, auf deren Verfall zusteuern.
Dennoch, Merkel und die Unionsparteien – wie auch alle anderen europäischen Regierungen – sehen keinen anderen Weg als den der Fortsetzung dieser verhassten Agenda-Politik. Sie sehen sich nicht in der Lage, eine politische Orientierung gegenüber einem Martin Schulz zu entwickeln, der als Spitzenkandidat der SPD mit einer wenn auch im Vagen bleibenden Positionierung gegen diese Agenda-Politik punktet.
Merkel weiß, dass sie für ihr „Weiter so“ ihre Niederlage riskiert, dass sie keine Regierungsmehrheit unter ihrer Führung erreichen wird. Aber auch die SPD kann bisher nicht auf sichere Mehrheiten für eine rot-rot-grüne Regierung setzen.
US-Präsident Trump hat von Merkel während ihres gemeinsamen Gesprächs ultimativ ein größeres Engagement bei den Militär-Ausgaben gefordert. Die Washington Post kommentierte am 19. März, dass weniger als 1 Jahr vor den Bundestagswahlen „die Tweets von Trump sicherlich nicht die Aufgabe der Kanzlerin Angela Merkel erleichtern, die eine deutsche – gegen Erhöhung der Militärausgaben misstrauische – Öffentlichkeit, überzeugen muss.“
Zu Recht besteht die Befürchtung, dass die drastische Erhöhung der Rüstungs- und Kriegsausgaben eine nochmalige Verschärfung der Kaputtsparpolitik gegen Bildung, Kommunen und die staatliche soziale Infrastruktur verlangt. Hier liegt sicherlich der eigentliche Grund dafür, dass die Große Koalition die noch von Gabriel als Wirtschaftsminister im Rahmen der Neuregelung des Autobahnbaus vorangetriebene umfassende Privatisierungsoffensive gegen die gesamte öffentliche Daseinsvorsorge auf Biegen und Brechen durchsetzen will, selbst hinter Rücken der SPD und der Parlamentarier. (s. auch S. 14 in dieser Ausgabe).
Das Dilemma von Martin Schulz
Den Aufschwung in den Wählerumfragen für die SPD verdankt Schulz allein seiner Positionierung für „Fehler“-Korrekturen an der Agenda-Politik. Er muss sich also einerseits, um seine Glaubwürdigkeit zu demonstrieren, davor bewahren, mit der Großen Koalition identifiziert zu werden, während er die Agenda-Politik andererseits im Kern immer als „gut und erfolgreich“ verteidigt hat. Dazu gehört auch seine Versicherung, dass die SPD in der Großen Koalition „bis zum letzten Tag den Koalitionsvertrag erfüllen“ wird.
Aus diesem Dilemma heraus hat er zunächst seine Teilnahme am Koalitionsgipfel, an dem in der Regel die Chefs von CDU/CSU und SPD teilnehmen, abgesagt, um schließlich mit einer „Rolle rückwärts“ doch zuzusagen.
„100%-Ja-Stimmen“ und Begeisterung bei den Delegierten des SPD-Parteitags zur Wahl von Schulz als SPD-Vorsitzender und seiner Kür zum Spitzenkandidaten in der Bundestagswahl: Die Delegierten wollten die Chance ergreifen, sich von der vernichtenden Verantwortung und Belastung für die jahrelange Agenda-Politik zu befreien. Mit der von Martin Schulz proklamierten Kurswende der SPD zu einer Politik der sozialen Gerechtigkeit sehen sie – wie auch ein Teil der verlorenen SPD-Wähler – die Möglichkeit, Merkel und ihr Weiter so mit einer noch verschärften Agenda-Politik zu verhindern.
Gleichzeit erlaubte die Parteitagsregie es nicht, dass Stimmen zum Ausdruck kommen, die dazu beitragen wollten, dass dieses vorläufig reine Lippenbekenntnis zu mehr Gerechtigkeit zur praktischen Politik der SPD werden kann. In ihrer wegen „Zeitmangels“ ungehaltenen Rede wollte die Delegierte Gerlinde Schermer sagen: „Martin, Du hast unserer Partei das Thema Kampf um Gerechtigkeit zurückgegeben. Über Jahre durch neoliberales Diktum gedemütigte Sozialdemokraten richten sich auf. Es ist mit Händen zu greifen. Wir wollen eine andere Politik.“
Dann mahnte sie an, dass „der Versuch, die Autobahnen über Grundgesetzänderungen zu privatisieren, eine Ungerechtigkeit ist, die verhindert werden muss (…). Es würde die größte Privatisierungswelle aller Zeiten eingeläutet. 150 Mrd. € fette Beute!“ – für die Finanzspekulanten. Ihre Forderung an Schulz hieß: „Sorge dafür, dass die Gerechtigkeit in diesem Punkt hier und heute beginnt!“ Das hätte es ihm erlaubt, gestützt auf den breiten Widerstand in der Bevölkerung, in der SPD und den Gewerkschaften klar Stellung zu beziehen und die SPD-geführten Landesregierungen wie die SPD-Bundestagsfraktion aufzufordern, zu dieser Privatisierungsorgie Nein zu sagen.
Wenn Schulz dagegen diesen Privatisierungsangriff auf die öffentliche Daseinsvorsorge stillschweigend mitträgt, muss er riskieren, dass die gesellschaftlichen Mehrheiten ihren entschiedenen Willen für einen Bruch mit der bisherigen Zerstörungspolitik gegen den Sozialstaat mit den „Korrektur“versprechen von Schulz noch nicht garantiert sehen.
„Mehr Gerechtigkeit“ – das muss praktische Politik werden
Das hat auch politisch engagierte ArbeitnehmerInnen, Gewerkschaftskollegen und SPD-Genossen in Berlin bewogen, angesichts einer Politik der neu gewählten rot-rot-grünen Regierung, die trotz gegenteiliger Versprechungen an Ausgründungen und Tarifflucht nicht rüttelt (und damit die Perspektive einer politischen Wende sabotieren würde), die Initiative für einen Offenen Brief an Martin Schulz zu ergreifen (s. S. 6 in dieser Ausgabe). Sie wollen helfen, dass Schulz die Chance wahrnimmt und über sein Eingreifen noch vor der Bundestagswahl ganz konkrete Signale für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit setzt, den Kurs gegen die Agenda-Politik stärkt, und so die notwendige Mobilisierung der Stimmen für die SPD aus der Arbeiterschaft und Jugend erreicht, mit der Merkel und ihrer arbeitnehmerfeindlichen Politik eine Niederlage bereitet werden kann.
Carla Boulboullé
Comments are closed.