Wenige Tage vor den NRW-Landtagswahl herrscht weiterhin größte Unsicherheit bei den Vertretern des „etablierten Parteiensystems“. Verunsicherung, Skepsis und Ablehnung prägen die Stimmung in der Wählerschaft. Gibt es in NRW wirklich etwas zu wählen?
Die Wahlen in dem mit 17 Millionen Einwohnern größten Bundesland gelten unter normalen Umständen als Generalprobe für die Bundestagswahlen. Diese Normalität ist freilich gestört, solange sich ein SPD-Kandidat Martin Schulz glaubwürdig mit dem Kampf gegen „Fehler der Agenda“, gegen das „Weiter so“ mit der Agenda von Merkel präsentieren kann.
Vor zwei Jahren haben die Wähler in den Ruhrgebietsstädten wie Essen, Duisburg, Oberhausen und Bochum zu 60 – 70% ihre Stimmabgabe in den Wahlen der Bürgermeister und Landräte verweigert. Die Ablehnung traf vor allem die SPD, die als historische politische Interessensvertretung der Arbeiterschaft nirgends so verankert war wie im Ruhrgebiet, und stürzte sie in eine Existenzkrise.
Mit ihrer Politik der Agenda 2010 hatte sie begonnen, Scharen von Arbeitern aus ihren starken Tarifverträgen in der Industrie hinauszuwerfen und Zigtausende Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst, aus den Einrichtungen der kommunalen Daseinsvorsorge zu drängen, sie in Arbeitslosigkeit, Niedrigtarife und Billigjobs zu zwingen und die verarmten Kommunen dem sozialen Niedergang auszuliefern.
In den letzten Landtagswahlen erzielte die SPD unter Hannelore Kraft mit 39,1 % das zweitschlechteste Ergebnis der Nachkriegszeit. In Umfragen steht sie heute bei 34 %.
Was gibt es für die arbeitende Bevölkerung an Rhein und Ruhr jetzt 2017 zu wählen?
Das Schluss gemacht werden muss mit dieser zerstörerischen Agenda-Politik – dieser Mehrheitswille der Arbeiterschaft und Jugend bleibt zunehmend ohne politische Vertretung.
Natürlich kann dieser Wille nichts von einer CDU erwarten, die dem Land Merkels Politik des ausdrücklichen „Weiter so“ mit der Agenda aufdrücken will.
Die Bevölkerung der ruinierten Kommunen,
- die Familien, in denen mehr als eine Million Kinder und Jugendliche unter Hartz IV-Verhältnissen aufwachsen,
- die für mehr Personal und gegen das Kaputtsparen, gegen Privatisierungen und Schließungen der Krankenhäuser kämpfenden Beschäftigten,
- die gegen die Verweigerung der notwendigen Investitionen für Kita-Plätze und Schulsanierung und gegen die Personalnot kämpfenden ErzieherInnen, Schüler, Lehrer und Eltern:
für alle muss es wie Hohn in den Ohren klingen, wenn die SPD-Ministerpräsidentin H. Kraft die Situation mit dem Hinweis auf Korrekturen an den schlimmsten Auswirkungen der Agenda zu beschönigen sucht und – mit Versprechungen weiterer Korrekturen – zur Fortsetzung der Sparpolitik unter den Anforderungen der Schuldenbremse und zur Fortsetzung der Deregulierung der Arbeitsverhältnisse im Namen der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit zu ihrer und der Wahl der SPD aufruft.
Sie alle haben kein Verständnis dafür, wenn die Spitzenverantwortlichen des DGB dieser Politik der rot-grünen Landesregierung das Etikett „arbeitnehmerfreundlich“ erteilt und H. Kraft als „Verbündete“ der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften als Rednerin auf der 1. Mai-Kundgebung des DGB in Köln einlädt.
Es ist vielmehr die Verantwortung dieser Politik unter der SPD-Ministerpräsidentin, dass die traditionelle Arbeiterschaft und die Jugend in der SPD nicht mehr ihre Interessenvertretung erkennen können. Sie ist schließlich auch dafür verantwortlich, wenn Teile der Wähler ihren Protest gegenüber allen etablierten Parteien, die sich den Geboten der Agenda-Politik unterwerfen, durch Stimmabgabe für die AfD zu signalisieren versuchen.
Der Wille der arbeitenden Bevölkerung: Schluss mit der AGENDA-Politik
In diesen Landtagswahlen steht die Umsetzung der gleichen Agenda-Politik durch die bisherigen wie durch eine neue Regierung zur „Wahl“. Eine Politik, die von Merkel und Gabriel, von der Großen Koalition gemacht wurde und in der breiten Bevölkerung auf wachsende und derart hartnäckige Ablehnung stieß, dass Gabriel mit seiner SPD-Kanzlerkandidatur davor kapitulieren musste.
Das gilt auch für eine eventuelle rot-rot-grüne Koalition, für die zur Zeit keine Mehrheit in Sicht ist. In allen Landesregierungen, an denen die Partei der Linken beteiligt ist, beweist sie ihre Fähigkeit und Entschlossenheit, die von den Banken und Konzernen diktierte Politik der Schuldenbremse und Deregulierung gegen den Widerstand der arbeitenden Bevölkerung umzusetzen. Das demonstriert zuletzt die rot-rot-grüne Koalitionsregierung in Berlin, die mit Streikverbot gegen den Kampf der Krankenhausbeschäftigten und ihrer Gewerkschaft ver.di für die Aufhebung ihrer Ausgründung und für die Verteidigung und ihre Rückkehr in den Flächentarifvertrag vorgeht. (s. Soziale Politik&Demokratie Nr. 375 und S. 4-6 in dieser Ausgabe)
Mit seinen Reden gegen die „Fehler der Agenda“ hat Martin Schulz auch in NRW zeitweilig einen gewissen Aufschwung der SPD in Wählerumfragen bewirkt. Der unbedingte Wille solcher Wähler, dass die Agenda-Politik endlich aufhört, wird umso schärfer mit der Politik jeder von der SPD unter Kraft geführten Regierung, egal welcher Couleur, zusammenprallen.
Trotz des Drucks auf die Gewerkschaftsführung von ver.di, in der Zeit bis zu den Bundestagswahlen und vor allem in NRW vor den Landtagswahlen, die angekündigten Warnstreiks für den Tarifvertag-Entlastung, für mehr Personal, der sich direkt gegen die Kaputtsparpolitik der Großen Koalition und Landesregierungen gegen die Krankenhäuser richtet, ganz zu verhindern oder zumindest auf Sparflamme zu halten, wollen die Kollegen nicht auf ihre berechtigten Forderungen gegen den katastrophalen Personalnotstand verzichten.
Sie wissen, dass sie sich nur auf die Kraft ihres gewerkschaftlichen Kampfes verlassen können, um die Landesregierung als öffentlichem Arbeitgeber zur Aufnahme von Tarifverhandlungen mit ihrer Gewerkschaft zu bewegen.
Bietet das nicht für den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz, der in NRW für den Bundestag kandidiert, eine weitere Möglichkeit, die Kollegen in den Krankenhäusern für ihre Forderungen gegen die Sparpolitik der Agenda zu unterstützen: Durch die Aufforderung an die SPD-geführte Landesregierung, an H. Kraft, Tarifverhandlungen mit ver.di über die Forderung der Kollegen nach mehr Personal aufzunehmen?
Im Zentrum der Arbeitnehmerkonferenz in Berlin am 17. Juni
wird die Diskussion zur Situation nach den Landtagswahlen in NRW und vor den Bundestagswahlen im Herbst stehen: die Erfahrungen unseres Eingreifens in die Kämpfe zur Verteidigung unserer historischen sozialstaatlichen Errungenschaften, des Gesundheitssystems und des Systems der gewerkschaftlich garantierten allgemeinverbindlichen Flächentarifverträge gegen alle Formen der Tarifflucht – wofür die Einschränkungen des gewerkschaftlichen Streikrechts überwunden werden müssen. Zu dieser Konferenz sind auch Kollegen aus Frankreich und Polen eingeladen zur gemeinsamen Vorbereitung der Offenen Weltkonferenz am 5. – 8. Oktober in Algier.
Carla Boulboullé
Comments are closed.