Niemand wagt den wirklichen Grund für das Wahlergebnis zu benennen – weder die Medien, noch die politisch Verantwortlichen der Union, der SPD, Grünen oder Linken, auf ihre Weise auch nicht die AFD. Am häufigsten zu hören ist ein inhaltsleeres Geschwafel über den „geschrumpften“ oder „verpufften“ „Schulz-Effekt“ als Ursache für das Wahldesaster der SPD.
Tatsächlich haben Regierungsparteien selten eine so entschiedene Abwahl hinnehmen müssen: die SPD verbuchte in NRW mit 31,2% und einem Verlust von mehr als 400.000 Stimmen gegenüber 2012 ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1947 (32%). Und der Stimmenanteil der Grünen wurde beinahe halbiert.
Das ist die massive Absage der gesellschaftlichen Mehrheit an die Politik der rot-grünen Regierung unter Kraft, die eine Spur der sozialen Verwüstung durch das Land gezogen hat. Mit betrügerischen Beschönigungen glaubte Hannelore Kraft die wahre Bilanz des unter der Schuldenbremse kaputtgesparten Landes übertünchen zu können.
Sie begnügte sich mit dem „Weiter so…“ (das Merkelsche „…mit der Agenda“ klammheimlich verschluckend) und verzichtete auf Versprechungen sog. „sozialer Korrekturen“. Hatte sie aus der Erfahrung der Müller-SPD in Berlin gelernt, dass selbst die abenteuerlichsten „Korrekturversprechen an der Agenda“ die jahrelange Zerstörungspolitik nicht vergessen machen können und die SPD mit dem schlechtesten Wahlergebnis der Nachkriegszeit abstürzte?
Noch wenige Tage vor der Wahl erklärte sie ausdrücklich, die Schuldenbremse einhalten zu wollen. Sie preist als einen der großen Erfolge, dass die Zahl der Kommunen im Nothaushalt von 138 auf 9 gesenkt wurde. Was sie nicht sagt: durch die mit dem „Stärkungspakt Stadtfinanzen“ aufgezwungenen Sparauflagen wurden die ohnehin ausgebluteten Kommunen weiter in den Ruin getrieben. Keine Region verwahrlost und verarmt so sehr wie das Ruhrgebiet, mit weit über dem Durchschnitt liegender Arbeitslosigkeit. Straßen, öffentliche Einrichtungen, Schulen… – vieles ist marode. Die Kinderarmut stieg unter der Regierung Kraft an. In gleichem Maße hat sie den Selbstzerstörungsprozess der SPD vorangetrieben.
Es ist die soziale und politische Verzweiflung, die besonders in den ehemaligen SPD-Hochburgen des Ruhrgebiets dazu geführt hat, dass Teilschichten der Arbeitnehmer, ehemalige Stammwähler der SPD, nach der AfD gegriffen haben, um ihren Protest zu signalisieren. Die 60 000 Stimmen, die die AfD der SPD abgenommen hat, sind Ausdruck dieser wütenden Ablehnung und nicht zu verwechseln mit einem Ja zur Rechts-Ideologie der AFD.
Es ist das Fehlen einer authentischen politischen Vertretung für den Mehrheitswillen der arbeitenden Bevölkerung, dass endlich Schluss gemacht wird mit der Agenda-Politik, das dazu geführt hat, dass die SPD 310 000 Stimmen an die CDU verlor. Diese hat allein von der Tatsache profitiert, dass sie in den letzten fünf Jahren nicht direkt als NRW-Regierungspartei für die Politik der sozialen Zerstörung verantwortlich war.
Während die einen vom verblassten Schulz-Effekt palavern, beschwören die anderen den „Merkel-Effekt“, mit dem Kontinuität und Stabilität verbunden sei. Sie wagen nicht zu behaupten, dass das Programm der CDU, die ihr zweitschlechteste Ergebnis in NRW verbuchte, oder auch das der FDP, gewählt worden seien.
Wie schon im Saarland und dann Schleswig-Holstein, verteidigt oder übernimmt die CDU auch in NRW die Regierungsführung allein auf der Grundlage des Niedergangs der SPD.
Da die SPD unfähig ist, in NRW in eine Regierung der Großen Koalition zu gehen ohne ihre endgültige Zersetzung zu riskieren, bleibt nur die andere „Notlösung“ einer Koalitionsregierung von CDU und FDP. Was beide Parteien nicht wollen, denn beide fürchten, dass sie mit ihrem Programm der noch entschiedeneren Privatisierung, Deregulierung und Spardiktaten gegen die gesellschaftlichen Mehrheiten regieren müssen.
Das Wahlergebnis in NRW erweist sich keinesfalls als stärkender Stützpunkt für Merkel, sondern als ein Unsicherheitsfaktor, der die Regierungsbildung im Bund belasten wird. Besonders wenn sich der Niedergang der SPD fortsetzt, wird sich das gleiche Dilemma wie in NRW zeigen. Insgeheim – niemand wagt offen dazu zu stehen – setzen Union wie SPD-Führung auf die Große Koalition unter Merkel mit ihrem „Weiter so… mit der Agenda“ als „Notlösung“. Und das trotz aller Risiken vor allem für die SPD, deren Existenz auf dem Spiel steht. Denn es wird unter dem Druck des Finanzkapitals keinen Spielraum für Korrekturen an der Agenda geben.
In dieser Situation setzt eine relativ leise Fraktion der CDU, einem Wunsch von Arbeitgebern folgend, auf eine Möglichkeit für schwarz-gelb auch im Bund. So träumt Arbeitgeberpräsident Kramer nach dem Ergebnis in NRW davon, dass das bürgerliche Lager auch in Berlin an die Macht kommen könnte, um eine noch brutalere Version der Agenda durchzusetzen. „Wir brauchen Freiräume statt Regulierungen.“
Martin Schulz hat seit einiger Zeit auf seinen forschen Kampf für Korrekturen der „Fehler der Agenda“ verzichtet. Gleich zum Antritt seiner Kandidatur hatte er unmissverständlich erklärt, dass die SPD in der Großen Koalition „bis zum letzten Tag den Koalitionsvertrag erfüllen“ wird. Er lässt die größte Privatisierungsorgie passieren, die noch im Mai gegen den Willen der gesellschaftlichen Mehrheiten mit 13 Grundgesetzänderungen im Bundestag beschlossen werden soll (s. auch S. 10). Er demontiert sich, wenn er sich mit der Agenda-Politik der Großen Koalition im Saarland, wie der SPD-geführten Regierung in Schleswig-Holstein und NRW identifiziert und H. Kraft lobt, die für NRW „Gewaltiges geleistet hat.“
Wie weit er sich wieder als „Korrekteur“ an der Agenda-Politik ins Spiel bringen und damit gegen Merkel antreten kann, ist völlig offen.
Erst einmal hat Schulz ein anderes Zeichen gesetzt, als er gemeinsam mit Gabriel und Merkel die Wahl von Macron zum französischen Präsidenten als Chance und Ermutigung begrüßt hat – einen Macron, der von den Finanzakteuren als der französische Schröder gefeiert wird und der dem Land noch konsequentere „Reformen“ aufzwingen will.
Die insgeheim von Union- und SPD-Spitze favorisierte Fortsetzung der Großen Koalition, die sich weiter den Grundgesetzen der Schuldenbremse/Kaputtsparpolitik und der Tarifflucht und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse verpflichtet, wird sich sofort mit dem Widerstand der gesellschaftlichen Mehrheit konfrontiert sehen.
Unbeirrt vom Wahlkampfgetöse und den wuchernden Spekulationen über das Steigen oder Fallen des Schulz- oder Merkel-Hypes führen die KollegInnen mit ihren Gewerkschaften den Kampf gegen die Agenda-Politik fort und erreichen Erfolge gegen Ausgründungen und bei der (Re-) Integration in Flächentarifverträge.
Auf der Arbeitnehmerversammlung am 17. Juni 2017 in Berlin sind alle Gewerkschafter und politisch Engagierte der Arbeiterbewegung zur Diskussion der Frage eingeladen, wie die Hindernisse dagegen überwunden und solche Kämpfe ausgeweitet werden können; wie die historischen Errungenschaften des Sozialstaats und der Demokratie verteidigt, bzw. wiedererobert werden können (s. S. 5 und 6).
Carla Boulboullé
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