Wahlkampf in Deutschland: Politische Korruption – Ausdruck der Verschärfung der Krise der politischen Demokratie

Seinen Leitartikel zum Bundestagswahlkampf betitelt das Handelsblatt (Organ des Kapitals) mit dem Aufruf: „Wähler, bitte aufwachen!“ Das Blatt sorgt sich und kritisiert: „Der Bundestagswahlkampf droht zur leeren Hülle zu verkommen. Vor allem die Union setzt auf Phrasen. ´Für gute Arbeit und gute Löhne`- mit diesem Slogan werben nicht nur die Linke und die SPD bei allen drei letzten Wahlen. Nein auch die CDU plakatiert 2017 so.“

Mit ihren verlogenen Sprechblasen können sie immer weniger Wähler darüber hinwegtäuschen, dass alle „etablierten“ Parteien – dazu zählen auch die Grünen und die FDP, aber auch die rechtsextreme AfD macht da keine Ausnahme – das Zerstörungswerk der Schröder-Agenda mit den beiden Diktaten der Schuldenbremse und der Wettbewerbsfähigkeit der Profite, z.B. mit Prekarisierung, Tarifflucht und Lohndumping, fortsetzen oder propagieren.

Von dem SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz hört man seit Monaten nichts mehr von seinen anfänglichen Kampfformeln gegen die „Fehler“ der Agenda. Völlig unglaubwürdig geworden, begleitet er die Merkel-Politik der Großen Koalition mit allen möglichen Korrekturvorschlägen an der Fassade, von denen niemand mehr etwas hören will.

Inzwischen liegt die SPD in den Wählerumfragen bei den 22% – 24 %, die den vorherigen SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Gabriel zur Kapitulation bewegten. Nun droht der SPD am Wahltag des 24. September der Absturz.

Einen neuen Tiefpunkt erreicht Martin Schulz, als er nach dem Verlust der parlamentarischen Mehrheit der von der SPD-geführten rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen über sein Schicksal nach einer Wahlniederlage im September sinniert: an seinem SPD-Vorsitz will er festhalten und bekundet seine Bereitschaft zum Wiedereintritt in eine Regierung der Großen Koalition. Das wirkt wie ein Wink an Merkel, das ihrige gegen eine Wahlkatastrophe für die SPD zu tun, die, wie zuvor nach der Wahlniederlage der SPD in NRW am 14. Mai, die SPD-Führung unfähig machen würde, die Partei erneut in eine Große Koalition zu zwingen. Denn Merkel braucht die SPD und ihren Einfluss auf die Gewerkschaftsführungen für die Fortsetzung einer verschärften arbeiterfeindlichen und antidemokratischen Politik gegen den unausweichlichen Widerstand der Arbeiternehmer und Jugend.

Für kurze Zeit wurde jetzt allerdings die Merkel-Union (CDU/CSU) aus ihrem Schlafwagenmodus im Wahlkampf herausgerissen. Der von Merkel am 2. 8. einberufene „Diesel-Krisengipfel“, der unter Vorsitz ihres Verkehrsministers Dobrindt die SPD-Umweltministerin und Ministerpräsidenten der betroffenen Länder, sowie Vertreter der Automobilindustrie und der Gewerkschaft IG Metall versammelte, wurde zu einem einzigen politischen Skandal.

In der Vorbereitung wie in der äußerst negativen Bilanz dieses Gipfels geißelten Medien und Vertreter der SPD und der Oppositionsparteien die jahrelange stillschweigende politische Korruption und Kumpanei von Autokonzernen und den Regierungen in Bund und Land. Kumpanei bei der systematischen Manipulation und Fälschung der Abgaswerte vor allem der Diesel-Fahrzeuge.

Diese Vorwürfe konzentrierten sich zunehmend auf Kanzlerin Merkel. So wurde der Diesel-Gipfel als „peinlicher Kotau der Regierung vor der Industrie“ charakterisiert. Verkehrsminister Do-brindt, dessen Kraftfahrt-Bundesamt die Manipulation der Abgaswerte jahrelang geduldet, ja gefördert hat, wurde als „Schutzpatron der Trickser und Betrüger, mit Billigung der Kanzlerin“ denunziert.

Nun wurde auch daran erinnert, dass die Regierung Merkel schon vor Aufdeckung des Betrugs mit den Abgaswerten bei VW vor zwei Jahren in Absprache mit der französischen Regierung, EU-Kommission und EU-„Parlament“ unter Druck gesetzt hat, ihre schon harmlosen Auflagen für die Autobauer entsprechend der Forderungen der Konzerne abzumildern. Der CSU-Vorsitzende Seehofer drängte damals in einem Brief an Merkel, sich deshalb im Namen „des Erhalts der Wettbewerbsfähigkeit der Automobilindustrie“ für die Positionen von BMW einzusetzen.

Worauf Medien und Regierungspolitiker an die geläufige Praxis erinnerten, dass nicht nur die Autoindustrie, sondern z.B. auch Chemie- und Energiekonzerne sowie Banken und Versicherungen die Bedingungen für die „Förderung ihrer Wettbewerbsfähigkeiten“ in den dafür vorgesehenen parlamentarischen Kommissionen in die Gesetzesvorlagen hineinformulierten.

Als Kanzlerin Merkel ins Zentrum der politischen Korruption durch die Autoindustrie zu rücken drohte, gab sie ihrer Partei grünes Licht zur Eröffnung eines Kapitels des „schmutzigen Wahlkampfs“, um von dem Dieselskandal und ihrer Verantwortung darin abzulenken.

Am 4. 8. erklärte eine Landtagsabgeordnete der Grünen in Niedersachsen, die zuvor nicht mehr als Kandidatin für die Landtagswahl Anfang 2018 aufgestellt wurde, ihren Austritt aus den Grünen und deren Parlamentsfraktion und ihren Eintritt in die CDU. Dort winkt ihr eine Kandidatur für den Landtag oder für die Europawahlen.

Die SPD-geführte Regierung verlor damit ihre parlamentarische Mehrheit, und der SPD-Ministerpräsident Weil ließ zu Neuwahlen im Oktober aufrufen.

Nach dem Sturz der SPD-geführten Regierungen von Schleswig-Holstein und NRW traf das erneut vor allem den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz, wie im Artikel anfangs dargestellt. Das kehrte sich aber auch wie ein Bumerang gegen Merkel und ihre Union, weil sich die Wähler angewidert von diesem schmutzigen Wahlkampfstück abwandten.

Kein Zufall, dass das reaktionäre Skandalblatt „Bild“ am 8. August die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Weil von vor zwei Jahren zur Aufdeckung der Abgasmanipulation von VW veröffentlicht hat. Als Mitglied des Aufsichtsrates hatte Weil die Erklärung auf rechtliche Fragen vom VW-Vorstand überprüfen lassen, um den US-Behörden nicht weitere Vorwände zu liefern für den Wirtschaftskrieg gegen VW.

Die heuchlerische Kampagne der Medien, von Länder- und nationalen Spitzenpolitikern der CDU und FDP, die den sofortigen Rücktritt von Weil forderten, brach schon nach einem Tag ein. Und zwar, als daran erinnert wurde, dass Absprachen über Regierungserklärungen mit dem VW-Vorstand ebenfalls gängige Praxis der vorherigen CDU/FDP-Regierung in Niedersachen war, wie aller anderen Regierungen zuvor. Und das auflodernde Feuer wurde erst recht unter hektischen Löscharbeiten erstickt, als in dieser Zeit nach dem Diesel-Gipfel ein Zipfel des Schleiers über die nackte Tatsache gelüftet wurde, dass Gesetzgebung und Regierungshandeln auf Bundesebene grundsätzlich von den Profitinteressen des Kapitals bestimmt werden.

Danach suchte sich die Kampagne einen anderen Schwerpunkt und nahm grundlegenden sozialen Charakter an. Sie konzentrierte ihre Polemik gegen das VW-Gesetz, dem man die Schuld gab an diesem Beispiel korrumpierender Verflechtung von Politik und Privatwirtschaft.

„Der Staat sollte VW komplett privatisieren. Das VW-Gesetz passt nicht mehr in die Zeit.“ Das ist die Forderung der FDP und von Spitzenpolitikern des konsequenten Wirtschaftsflügels der Unionsparteien. Die Vertreter des Finanzkapitals formulieren: „Hier trifft ein globales Unternehmen auf lokale Interessen“ und fordern den „ultimativen Befreiungsschlag“. D.h. den Befreiungsschlag gegen die im deutschen Sozialstaat erkämpften und eingeschriebenen Errungenschaften der Arbeiterbewegung.

Das VW-Gesetz verleiht dem Land mit seinem Aktien-Eigentümeranteil eine Sperrminorität gegenüber strategischen Unternehmensentscheidungen. Vor allem: mit ihrem 50%-Stimmanteil im Aufsichtsrat können die Vertreter der 120000 Beschäftigten von VW in den sechs Standorten Niedersachsens solche strategischen Unternehmensentscheidungen zu Produktion und Investition, wie Verlagerungen und Auslagerungen, Verkauf, Schließungen und Arbeitsplatzvernichtungen abwehren, die vom Unternehmensvorstand nur mit einer 2/3. Mehrheit im Aufsichtsrat durchgesetzt werden können.

Kein politisch Verantwortlicher kann es vor den Wahlen wagen, eine praktische Initiative gegen das VW-Gesetz zu ergreifen, noch das in sein Wahl- und Regierungsprogramm aufzunehmen. Die jetzt angelaufene Kampagne hat den Zweck, das politische Terrain für solche Schläge gegen die sozialstaatlichen Errungenschaften durch die neugewählte Regierung vorzubereiten.

Martin Schulz hat Merkel wegen ihres nichtssagenden Wahlkampfes des „Weiter so“ Beschädigung der Demokratie vorgeworfen. Damit hat er wohl recht. Aber das sagt derjenige, der sich gemeinsam mit dem SPD-Führungsapparat weigert, dem Mehrheitswillen der arbeitenden Bevölkerung und Jugend sowie der wachsenden Zahl von Wahlverweigerern und Protestwählern, dass endlich Schluss gemacht werden muss mit der Agenda-Politik, eine politische Vertretung und Perspektive zu geben.

Darin konzentriert sich die verschärfte Krise der politischen Demokratie.

Von dem Ergebnis dieser Wahlen können Arbeiterschaft und Jugend keine Erfüllung ihrer Forderungen erwarten. Auch deshalb sehen sie sich gezwungen, gegen das fortgesetzte Wüten der Agenda-Politik den Widerstand auf dem Boden des gewerkschaftlich organisierten Kampfes zu entfalten.

Carla Boulboullé

 

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