„Bedingt regierungsfähig“

Schon in der Phase ihrer Aufstellung für die später beginnenden Sondierungsgespräche untereinander und die darauffolgenden eigentlichen Koalitionsverhandlungen, werfen die vier Parteien für die Jamaika-Koalition mit „nicht verhandelbaren“ Positionen und roten Linien um sich. So als ob sie das über sie gefällte Diktum der „bedingten Regierungsfähigkeit“ (Handelsblatt) demonstrieren wollten.

Es ist die Angst vor der Ablehnung und der „Wut der Wähler“, die sie dazu antreibt – die Angst vor dem immer bedrohlicheren Willen der Mehrheit des arbeitenden Volkes und der Jugend, dass endlich Schluss sein muss mit der zerstörerischen Agenda-Politik.

Eine Agenda-Politik, die unter dem Diktat der Schuldenbremse und der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Profite das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Sozialstaatlichkeit ausgehebelt hat und das Land mit massenhafter Kinder- und Altersarmut, mit Armutslöhnen und der Ruinierung von Kommunen und Regionen in tiefste soziale Spaltung und Entgegensetzung und extreme Verunsicherung gestürzt hat.

Und mittendrin das anklagende Elend der hunderttausenden Frauen, Kinder und Männer, die durch die ebenfalls von diesen vier Parteien mitzuverantwortende Kriegsführungspolitik gegen die Völker in die Flucht getrieben wurden und sich nun einer ruinierten sozialen kommunalen Infrastruktur ausgeliefert sehen und mehrheitlich mit einem Platz in Billig- und Minijobs und Hartz IV abgespeist werden.

Doch die Konflikte unter den vier Parteien brechen nicht über die Notwendigkeit der Fortsetzung dieser Politik auf. Sondern darüber, diese Politik mit neuer Schärfe und als eine Art „neue Agenda“ fortzusetzen, ohne sofort unkontrollierbare Widerstandskämpfe zu provozieren.

Das bleibt die Ursache für die größte Unsicherheit und politische Schwäche der, durch die Niedersachsenwahl noch weiter geschwächten, neuen Kanzlerin Merkel und ihrer Jamaika-Koalition: ihr fehlt die politische Fähigkeit der SPD, die, gestützt auf die DGB-Führung, solche aufbrechenden Kämpfe noch unter dem trügerischen Etikett von „Korrekturen an der Agenda“ einigermaßen kanalisieren konnte.

Also versuchen die einen, mit der Zertrümmerung des Asylrechts und der Kampagne gegen „Flüchtlinge“, die „Islamisierung“ und gegen die „Rechts–gefahr“ den Aufstand der Wähler umzulenken und die Arbeitnehmer zu spalten. Die anderen versuchen das Gleiche durch unverhandelbare „ökologische“ Forderungen zu erreichen. Während die FDP mit stark arbeiterfeindlichen und antisozialen Forderungen ihre Unternehmerklientel (mit der großzügigen Spendenkraft) zufrieden zu stellen sucht. Von dieser Position, die auch Anhänger in der Union vertreten, droht Merkel mit Sicherheit ein ernstes Risiko.

Diese Sorge treibt auch die Vertreter des internationalen Finanzkapitals um, die sich zur Zeit auf der Jahrestagung des IWF versammeln. Sie zweifeln generell an der Stabilität einer Jamaika-Regierung: „Das macht die politische Lage in Deutschland unsicherer als bisher“ (Handelsblatt).

Besonders warnen sie vor einer ultimativen Abwehrposition der FDP gegen jede neue Belastung durch einen Schuldenschnitt für Griechenland und gegen jede verstärkte „Vergemeinschaftung der Schuldenhaftung“ in der Euro-Zone, wie sie z.B. die Reformvorschläge von Macron enthalten. Die hatte schon die graue Eminenz der euroskeptischen Ökonomisten und ehemaliger Präsident des Ifo-Instituts und Berater des Wirtschaftsministeriums, Hans-Werner Sinn, als bloßen „Bittstellerbrief an die deutsche Bundesregierung“ abgeschmettert. Eine neue Regierung Merkel wird dennoch schon sehr bald gezwungen sein, dem Volk die Rechnung für ihre Euro-Rettungspolitik zu präsentieren.

Das wirkliche Programm der „neuen Agenda“ wird derweil der noch kommissarisch regierenden Großen Koalition und einer zukünftigen Regierung Merkel von den zunehmenden Krisenanforderungen des Finanzkapitals und der industriellen Großkonzerne diktiert.

Im Rahmen der Förderung einer Industriepolitik, die dem deutschen Kapital die Wettbewerbsfähigkeit auf dem europäischen und auch Weltmarkt sichern soll, erleben wir z.B. zur Zeit eine auffallende Häufung von Unternehmensfusionen, Abspaltungen und Ausgründungen, Verkäufen und Übernahmen, vor allem in der Industrie. Sie alle dienen dem Zweck der Senkung der Lohnkosten zur Steigerung der Profite und Renditen. Das bedeutet die Vernichtung von Arbeitsplätzen und die generelle Senkung des Aufwands an lebendiger Arbeitskraft im Namen der „Digitalisierung“, das bedeutet Flucht aus den Flächentarifverträgen in Niedrigtarife und auch in tariflose und prekarisierte Beschäftigungsverhältnisse. Im Rahmen dieses Artikels sollen nur einige ausgewählte Beispiele gebracht werden.

 Das Beispiel Air Berlin – Lufthansa

„Wir brauchen einen nationalen Champion im internationalen Luftverkehr“, feiert der CSU-Minister Dobrindt die von ihm vorangetriebene mehrheitliche Übernahme von Air Berlin durch die Lufthansa.

Der Lufthansa-Konzern betreibt über den massiven Ausbau der Billigplattform Eurowings einen gnadenlosen Wettbewerb. Mit dem neuen Tarifabschluss Anfang Oktober hat der Konzern seine Piloten auf einen Billigkurs gezwungen (Laufzeit bis 2022 und Senkung der Personalkosten um 15 %). An der Börse wurde diese Neuigkeit mit Begeisterung aufgenommen: Die Lufthansa-Aktie hob ab und setzt sich an die Spitze des Dax.

Mit der Übernahme der lukrativen Anteile von Air Berlin zum „Schnäppchenpreis“ durch den Lufthansa-Konzern sollen von den insgesamt 8000 Beschäftigten ca. 3000 in die Billigplattform Eurowings integriert werden und zwar zu wesentlich schlechteren Arbeitsverhältnissen bei Gehaltseinbußen von 20 – 40 %. Davon werden 1200 Piloten von Air Berlin nicht direkt übernommen, sondern müssen sich bei Eurowings neu bewerben. Ver.di kritisiert, dass geplant sei, durch das Verfahren der Neueinstellung eine gezielte Personalauswahl zu betreiben, bei der vermutlich Jüngere und somit billigere Arbeitskräfte bevorzugt eingestellt werden sollen.

Die Langstreckenflotte wird wegen der hohen Personalkosten ganz eingestellt. Die Zukunft der hier über 1000 Beschäftigten, „mit einem sehr sehr hohen Organisationsgrad bei ver.di und vergleichsweise außerordentlich gut bezahlten Arbeitsplätzen“ (ver.di-Vorsitzender Bsirske) ist völlig ungewiss. Auch auf diese Übernahme hat die Lufthansa-Aktie mit einem Kurssprung reagiert und erreichte mit einem Plus um mehr als 3% den höchsten Stand seit 17 Jahren.

1400 Beschäftigte des Bodenpersonals und der Verwaltung verlieren bis Ende Oktober ihren Job. Die Finanzierung einer Transfergesellschaft zur Umschulung lehnen Lufthansa wie Bundesregierung ab, während ver.di sich um eine sozialverträgliche Gestaltung dieses Prozesses bemüht. Es gibt jahrzehntelange Erfahrungen von Kollegen in der Industrie, dass Transfergesellschaften für den größten Teil der betroffenen KollegInnen nur einen verzögerten Gang in die Arbeitslosigkeit bedeutet. Kollegen werfen zu recht die Frage auf, ob es nicht vielmehr in der Verantwortung von ver.di steht, für die Forderung, dass alle Arbeitsplätze verteidigt werden müssen, die gewerkschaftliche Kampfkraft der KollegInnen zu mobilisieren?

Das Beispiel: Telekom und Post

„Deutschland mit schnellem Internet zu versorgen, das ist aufwändig und teuer. Vielleicht muss die Bundesregierung sogar ihre Telekom-Aktien verkaufen, um das zu finanzieren,“ ist in der FAZ vom 9.10.2017 zu lesen. Für eine staatliche Anschubfinanzierung für eine flächendeckende Verlegung von Glasfaser wird schließlich eine mehrstellige Milliardensumme gebraucht.

Immer noch liegt knapp ein Drittel der Telekom-Aktien beim Staat und der Staatsbank KfW. „Vielleicht schafft es eine Jamaika-Koalition, mit diesen Relikten aus längst vergangenen Bundespost-Zeiten endlich aufzuräumen“, kommentiert die FAZ vom 6.10.17. Es geht um die endgültige Privatisierung der erfolgreichen Weltkonzerne Telekom und Post, die die Große Koalition gegen den Widerstand aus Gewerkschaften und SPD nicht umsetzen konnte. Deutschland solle bis 2025 zur „Gigabit-Gesellschaft“ werden, so die Vorstellung von noch Minister Dobrindt (CSU). In Bezug darauf erwägt die Deutsche Telekom AG, einen Teil ihrer T-Systems-Einheit zu verkaufen. Und die FDP fordert konsequent die endgültige Privatisierung der Deutschen Post AG. Zur Lösung des Problems gehört es, die Personalkosten deutlich zu senken. Den 26.000 IT-Mitarbeitern droht massiver Stellenabbau. Die Deutsche Post AG plant Personal- und Lohnabbau durch eine drastische Verringerung der Zustellfrequenzen, womit die gesetzlich garantierte tägliche und flächendeckende Grundversorgung untergraben wird. Für einen Tag weniger Zustellung heißt das 15.000 bis 20.000 Arbeitsplätze weniger. (ver.di).

Um Senkung der Kosten der Arbeit u.a. über Stellenabbau geht es auch bei der von der bisherigen Bundesregierung geförderten Fusion von Siemens und Alstom zum neuen „europäischen Zug-Champion“, der damit im Wettbewerb auf dem europäischen und internationalen Markt profitabler sein wird. Die Siemens-Aktie stieg um knapp zwei Prozent auf 118 Euro.

Wie schon unter der Regierung der Großen Koalition (und jeder anderen Regierung zuvor) sehen die Gewerkschaftsführungen ihre Aufgabe darauf reduziert, diese von der Regierung geförderten Prozesse des zerstörerischen Strukturwandels „sozialverträglich“ gestaltend zu begleiten. In Bezug auf die neue Jamaika-Regierung hat der ver.di-Vorsitzende Bsirske entsprechend angekündigt, auf die konkreten Weichenstellungen Einfluss zu nehmen und die Koalitionsvereinbarungen der neuen Bundesregierung zu begleiten (s. den Situationsbericht des ver.di Vorsitzenden auf dem Gewerkschaftsrat am 28. 9. 2017). Doch der Spielraum für die angebliche „sozialverträgliche“ Gestaltung schrumpft angesichts der neuen Dimension des Zerstörungsprozesses. Und für die betroffenen Kollegen kann er im Fall von Arbeitsplatzvernichtung grundsätzlich nicht existieren.

Die Beschäftigten drängen, wie die Mitarbeiter von Air Berlin am 16.10., zum Widerstand.

In den härter werdenden Kämpfen gegen Entlassungen und Lohnraub werden die KollegInnen verstärkt nach ihren Gewerkschaften als ihren Kampfinstrumenten greifen, um die Fesseln zu überwinden, die ihnen mit dem von den Gewerkschaftsführungen seit über 50 Jahren respektierten Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufgezwungen wurden: das Streikverbot bei nichttariffähigen Forderungen, wie gegen Tarifflucht.

Unvergessen ist: Es waren die die Kollegen der Deutschen Post, die in einem historisch beispiellosen Vollstreik 2015 mit ihrer Gewerkschaft ver.di das Recht auf Streik gegen Ausgliederungen zur Flucht aus den Flächentarifen in Billigtarife erkämpft haben, in dem sie es praktiziert haben.

Carla Boulboullé

 

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