In Reaktion auf den erneuten Absturz der Regierungsparteien in der Hessen-Wahl hat Kanzlerin Merkel ihren Rücktritt vom Parteivorsitz der CDU erklärt und ihren Plan verkündet, sich 2021 aus der Politik zu verabschieden.
Damit ist die Regierung der „Großen“ Koalition unwiderruflich in die Endphase ihres politischen Verfalls getreten. „Merkels Zeit ist abgelaufen… mit dem avisierten Rückzug vom Parteivorsitz hat Merkel den ersten Schritt getan“, schreibt das Handelsblatt und fügt hinzu: „Ob sie die Kanzlerschaft, wie von ihr geplant, zu Ende bringen kann, ist zweifelhaft… die Regierungsform Große Koalition ist ebenso verbraucht wie die CDU-Chefin Angela Merkel.“
Ein vorzeitiges Auseinanderbrechen der „Großen“ Koalition kann jederzeit von beiden Seiten ausgelöst werden, von der Union und von der durch ihre Führung in einen selbstmörderischen politischen Kurs getriebenen SPD.
Auch unter dem Druck der drängenderen Krisenanforderungen des Kapitals suchen starke Kräfte in der Union einen Ausweg aus den Wahlniederlagen in der „Profilierung“ mit einer skrupelloseren Offensive gegen die noch existierenden Errungenschaften des Sozialstaates.
Dafür hat ihnen die Verpflichtung der Regierung auf die Agenda-Politik deren schärfsten Waffen an die Hand gegeben: die Schuldenbremse/Kaputtsparpolitik und die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse zur Senkung der Kosten der Arbeit.
Auf dem CDU-Parteitag im Dezember wird es zur Kampfkandidatur um den Parteivorsitz kommen, zwischen denen, die diese Offensive vertreten und denen, die das Weiter-so mit Merkels Politik wollen. Letztere setzen weiterhin auf die volle Unterstützung durch die SPD-Führung und auf die „kritische“ Unterstützung durch die DGB-Führung.
Für die erste Linie tritt mit Friedrich Merz, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der US-Finanz-Heuschrecke Blackrock in Deutschland, ein direkter Kandidat des Finanzkapitals an, um mit seiner Wahl zum CDU-Vorsitzenden die günstigsten Bedingungen für die Eroberung der Kanzlerschaft zu schaffen.
Unabhängig von dem Ausgang der Kampfabstimmung auf dem CDU-Parteitag wird dieser Druck aus der Union zur Verschärfung der Agenda-Politik in Konflikt treten mit der von Merkel und der SPD vertretenen politischen Linie und für eine zusätzliche Destabilisierung der Regierung sorgen. Zumal die SPD-Führung sich verzweifelt bemühen wird, das Weiter-so mit der verhassten Agenda-Politik unter betrügerischen Korrekturen an der Agenda erfolgreicher zu verbergen.
Weitere Destabilisierung der Regierung
In der Europa-Politik wird dieser Druck darauf abzielen, die politische und vor allem finanzielle Verantwortung für die Rettung von EU, Euro und Finanzsystem zurückzuschrauben und die Interessen des deutschen Imperialismus ungezügelter voranzustellen. Umso berechtigter ist die Sorge, die sich die britische Times darüber macht, dass „der lange Abschied Merkels eine Periode der Instabilität der größten Volkswirtschaft Europas einläutet“. Eine Sorge, welche alle Regierungen und Institutionen der EU teilen und die die New York Times formulieren lässt: „ein geschwächtes, instabiles Deutschland sei möglicherweise weniger in der Lage künftig die Führungsrolle zu übernehmen“, und das in einer Situation, in der die „internationalen politischen und ökonomischen Bedrohungen“ den Verfall der EU befördern.
In der einstigen SPD-Hochburg Hessen hat die SPD jetzt mit 19,8% (-10,9%) ihr schlechtestes Ergebnis seit der Nachkriegszeit kassiert. In Wählerumfragen auf Bundesebene ist die SPD auf 15% und damit auf den vierten Platz noch hinter der AfD abgesackt.
Der SPD-Spitzenkandidat Schäfer-Gümbel hatte die Themen Bildung, bezahlbare Wohnungen und regionale und kommunale Infrastruktur ins Zentrum seines Wahlkampfes gerückt und dabei nicht berücksichtigt, dass die SPD in Bezug auf diese Fragen jede Glaubwürdigkeit besonders bei den Wählern der Arbeiterschaft und Jugend verspielt hat. Deren wütende Abfuhr richtete sich freilich nicht gegen ihn, sondern gegen die Politik der SPD in der GroKo, die Schulen, Universitäten und Kitas ebenso kaputtgespart wie die kommunale Infrastruktur, den öffentlichen sozialen Wohnungsbau ganz zur Strecke gebracht hat und die ruinierten Kommunen gezwungen hat, den kommunalen Wohnungsbestand zu verscherbeln.
Nahles „Fahrplan“…
Gegen die in der SPD immer lauter werdenden Forderungen „Raus aus der GroKo“ und „Weg mit Hartz IV und der Agenda“ versucht die SPD-Vorsitzende Nahles Zeit zu gewinnen und kündigt mit dem Ruf „zurück zur Sacharbeit“ in der GroKo einen „Fahrplan“ für Regierungsmaßnahmen bis zum Sommer 2019 an, nach dessen Bilanz dann ein Verbleib in der Regierung überprüft werden soll.
Mit diesem „ominösen Fahrplan, die große Krisenkoalition noch ein kleines bisschen über die Zeit retten zu wollen, das dürfte ebenso fadenscheinig wie erfolglos sein“: das ist die generelle Linie der überwiegenden Kommentare der Medien.
… „zurück zur Sacharbeit“
Zu den teils vom Kabinett und teils auch vom Parlament beschlossenen, sowie den bis zum Sommer 2019 geplanten Gesetzesvorhaben, zählt Nahles: Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, das Gute-Kita-Gesetz, Maßnahmen für einen sozialen Arbeitsmarkt und gegen die sachgrundlose Befristung, Rente und Wohnung.
Das Pflege-Sofortprogramm bringt keinen zusätzlichen Cent für mehr Personal. Es verschlimmert den Personalbedarf, fördert den Abbau von Betten, die Schließung und Privatisierung von Klinken und die Abweisung von Kranken.
Das Gute-Kita-Gesetz, von ver.di als „mangelhaft“ kritisiert, wird die Personalnot nicht lindern und verschlechtert die Qualität der Betreuung durch die vermehrte Ersetzung von Fachkräften.
Das Teilhabechancengesetz verurteilt zwangsrekrutierte Langzeitarbeitslose zum Dasein als „Billig-Lohn-Sklaven“. Gegen Eindämmung der sachgrundlosen Befristung haben die Arbeitgeber schon die noch größere Ausweitung der Befristung mit Sachgrund angekündigt.
Das Rentenniveau von 48% bedeutet Altersarmut für viele Rentner*innen, die Ausweitung von Billiglöhnen vermehrt die Armenrentner.
Ein staatlich finanzierter sozialer Wohnungsbau wird verweigert, die Mietpreisbremse verhindert nicht die Mietenexplosion und die Begünstigung des privaten Wohnungsbaus fördert die Immobilienspekulation und verschärft die Wohnungsnot.
Dieser „Fahrplan“ entpuppt sich als bloße punktgenaue Widergabe der im Koalitionsvertrag beschlossenen Vorhaben. Weder wirkliche Korrekturen der Agenda und schon gar nicht „sozialdemokratische Politik prägen“, wie Nahles vortäuschen will, „die Gesetzgebungstätigkeit von Regierung und Bundestag“. Sie werden geprägt und beherrscht von den Geboten der Schuldenbremse und der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit von Profit und Rentabilität (der öffentlichen Dienstleistungen) und sollen als betrügerische Korrekturen der Verschleierung des tatsächlichen Weiter-so mit der Agenda-Politik dienen.
Wenn Nahles den „Fahrplan“ als Beitrag zur „Erneuerung der SPD“ und als „sozialdemokratische Politik für ein solidarisches Land“ charakterisiert, so schürt sie damit nicht nur die Wut der SPD-Mitglieder, sondern vor allem die wütende Ablehnung der SPD durch Millionen Arbeitnehmer und Jugendliche.
Wenn Nahles schließlich zu behaupten wagt: „Wir machen Politik für die vielen und nicht für die wenigen“ (FAZ, 21.10.), weiß man nicht, ob man das als totalen Realitätsverlust oder zynische Verleugnung der Realität abbuchen soll. Die „vielen“ Wähler der SPD jedenfalls werden von dieser Politik massenhaft in die Flucht geschlagen.
Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert antwortet in einem Twitter auf den „Fahrplan“ von Nahles: „Der Ruf der WählerInnen lautet nicht ´zurück zur Sacharbeit!` Das Urteil über diese GroKo ist final gesprochen.“ Was er nicht sagt ist, dass dieses finale Urteil auch für die SPD-Politik der angeblich sozialen Korrekturen gesprochen ist. Mitglieder des SPD-Parteivorstandes, die sich für das Verlassen der GroKo aussprechen, fordern einen früheren Termin für den Bundesparteitag im Frühjahr zur Beschlussfassung über die „program–matische Erneuerung der SPD“ und „Neuwahl der Führung“. Suchrufe nach einem Jeremy Corbyn oder einem Bernie Sanders der SPD werden laut. Kräftiger werden die direkten Forderungen nach „Raus aus der GroKo“ und „Weg mit Hartz IV und der Agenda“.
Kühnert warnt: „Ohne Strategie die GroKo zu verlassen, wäre fahrlässig“ und die Parteiführung warnt vor dem Chaos und einer Katastrophe für die SPD bei Neuwahlen. Gibt die Verbindung der Forderungen „Raus aus der GroKo“ mit der Forderung „Weg mit Hartz IV und der Agenda“ nicht die Richtung an eines ersten Schrittes für eine positive Lösung für die SPD?!
Die arbeitende Bevölkerung und Jugend, die gesellschaftliche Mehrheit sucht nach einer politischen Vertretung ihres entschiedenen Willens, dass endlich Schluss gemacht werden muss mit dem Zerstörungswerk gegen die historischen sozialen und demokratischen Errungenschaften des Sozialstaates durch die jahrelange Agenda-Politik. Die gewerkschaftlich organisierten Kämpfe sind geprägt von der Verteidigung und Rückeroberung dieser Errungenschaften.
Als politische Vertretung dieses Willens, dieser Kämpfe und Forderungen könnte die SPD, gestützt auf die Gewerkschaften, diese gesellschaftliche Mehrheit auch in Neuwahlen mobilisieren…für eine positive politische Lösung für die arbeitende Bevölkerung und Jugend.
Carla Boulboullé
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