„Die Regierung der GroKo ist unwiderruflich in die Endphase ihres politischen Verfalls getreten“, haben wir in der letzten Nummer dieser Zeitung geschrieben. Auf der einen Seite wächst nach wie vor die wütende Ablehnung ihrer Agenda-Politik durch die gesellschaftliche Mehrheit, die alle Parteien der Großen Koalition, besonders aber die SPD trifft.
Auf der anderen Seite drängt das Kapital unter dem Druck der sich bedrohlich häufenden Signale der Krise zu einem offensiveren „Weiter so“ gegen die noch existierenden Errungenschaften des Sozialstaates, auch unter dem üblicher Weise benutzten Stichwort „Neue Agenda 2020“.
Unter diesem Zangengriff kann es, entgegen den Absichten ihrer jetzigen Protagonisten, jederzeit von beiden Seiten, Union und SPD, zum Bruch mit der Regierungsform der Großen Koalition kommen.
Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer fordert von der Großen Koalition den Mut für ein tiefergreifendes Aufbrechen des Systems der Flächentarifverträge, dem Rückgrat des Sozialstaates. Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger „sieht Tarifpolitik wegen der Digitalisierung und der daraus folgenden individuelleren Arbeitsverhältnisse in einer Phase des Umbruchs“. Er fordert mehr Flexibilisierung und, entsprechend dem Vorschlag von Kramer, eine nur noch „modulare Tarifbindung“, bei der die Betriebe aus dem „Rahmen“-Flächentarif einzelne „Bausteine“ wählen können. Und er beschwört die traditionelle „Sozialpartner-schaft“ mit den Gewerkschaften, um einen solchen „Tarifvertrag der Zukunft gemeinsam zu gestalten“ – natürlich „sozialverträglich“.
Dafür kann die Regierung nach wie vor mit der Sparpolitik/Schuldenbremse und der Deregulierung im Namen der Förderung des wettbewerbsfähigen Profits auf die zentralen Waffen von Schröders Agenda-Politik zurückgreifen.
Aus der Union wird die geforderte neue Offensive schon durch ihre Minister in der Großen Koalition, Hand in Hand mit den SPD-Ministern, mit Gesetzen eingeleitet und von den Kandidaten Merz und Spahn zum CDU-Vorsitz mit Nachdruck formuliert.
Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles konnte widerstrebenden SPD-Funktionären und – Mitgliedern nur unter der Androhung eines sonst regierungslosen Chaos und im Namen eines Regierungsprogramms unter dem betrügerischen Etikett von „Korrekturen an Fehlern der Agenda“ den nochmaligen Gang in die GroKo abpressen. Heute sieht sie sich vor der schier unmöglichen Aufgabe, eine offensivere Fortsetzung der Agenda-2010-Politik unter einem ebenso unmöglichen Betrugsmanöver von einer „Großen Sozialstaatsreform 2025“ zu verschleiern.
Verkündet hat Nahles das große Reformprojekt auf dem ersten „SPD-Debattencamp“ zur „Erneuerung der SPD“.
Gleichsam als Orientierungshilfen für diese Erneuerung kamen „linke und erfolgreiche“ Politiker wie Tsipras zu Wort, der dem griechischen Volk gerade extrem „erfolgreich“ eine brachiale Rosskur für die Finanzierung der Milliarden an die Großgläubiger des Finanzkapitals aufgezwungen hat, 500.000 junge Menschen außer Landes getrieben und ganze Bevölkerungsteile in Ernährungs- und medizinische Versorgungsnot gestürzt hat.
Im Namen der Herausforderungen der Globalisierung und des digitalen Kapitalismus“…
Als Begründung ihrer großen Sozialreform geben Nahles und SPD-Generalssekretär Klingbeil den gleichen „Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft“ mit seinen „Herausforderungen Globalisierung und des digitalen Kapitalismus“ an, mit dem die Kapitalvertreter ihre „neue Agenda“-Offensive begründen. Die Herausforderungen der Globalisierung und des Wandels, hinter denen sich nichts anderes als die immer drängenderen Krisenanforderungen des Finanzkapitals verbergen, haben schon vor 15 Jahren Schröder als Rechtfertigung gedient für die notwendige „Anpassung des Sozialstaates“ in Form seiner Agenda 2010, d.h. für die erste umfassende Demontage der Errungenschaften des Sozialstaates.
Wenn Nahles heute davon spricht, „ den Sozialstaat entlang der aktuellen Erfordernisse sozialer Sicherheit neu auszurichten“, so meint sie als Epigonin von Schröder damit sowohl die betrügerischeren Korrekturen an punktuellen Auswirkungen der von ihr selbst und allen Regierungen seit Schröder angerichteten Sozialzerstörung, als auch die „sozialverträgliche Gestaltung“ zur Begleitung der weitergehenden Zerstörungen unter der Peitsche von Schuldenbremse und Deregulierung.
Nicht der Sozialstaat ist in der Krise
Die Errungenschaften des Sozialstaates: das gewerkschaftlich garantierte System der großen Flächentarifverträge und die darauf gründenden sozialen Sicherungssysteme, die großen staatlichen Monopole des öffentlichen Dienstes, Schulen und Krankenhäuser, staatliche Infrastruktur und kommunale Daseinsvorsorge – sie alle sind unvereinbar geworden mit den Interessen des Kapitals in der Krise und müssen abgeräumt werden.
„Ein wesentlicher Teil einer großen Sozialstaatsreform ist die Reform des Hartz IV Systems“, verkündet Nahles. Ihre Vorschläge und Versprechungen bleiben vage. Sie reduzieren sich auf eine ebenso erbärmliche wie heuchlerische Anhebung der soziale Armut und Not garantierenden Hartz-IV-Grundsicherung, der Nahles zur Verschleierung der hässlichen Realität das Etikett „Bürgergeld“ verpassen will; sowie auf Beruhigungspillen gegen die schlimmsten Formen von Sanktionen und Trostpflaster für die zwei Millionen „Hartz-IV-Kinder“. Mit dem dürftigen Angebot eines „Arbeitslosen-geldes Qualifikation“ für Wenige liefert Nahles, die als ehemalige Arbeitsministerin verantwortlich war für das Zusammenstreichen der Finanzmittel für berufliche Weiterbildung, nur ein weiteres Beispiel ihrer zynischen Skrupellosigkeit.
Gerade der Kern des Systems Hartz IV bleibt konsequent ausgeblendet.
Nach diesem System werden die Arbeitnehmer aus der solidarischen Arbeitslosenversicherung hinausgestoßen. Sie werden ihres Rechtes beraubt auf einen gesetzlich und tarifvertraglich geschützten und entsprechend ihrer beruflichen Qualifikation tariflich entlohnten Arbeitsplatz und völlig entrechteten Arbeitsverhältnissen und Billiglöhnen zwangsausgeliefert. Sie werden zu modernen Lohnsklaven und dienen als moderne „industrielle Reservearmee“ zur Überausbeutung für wettbewerbsfähigste Profite. Das ist der materielle Inhalt ihrer „Demütigung und Entwürdigung“, über die Nahles nur heuchlerisch moralisiert.
Das Hartz-IV-System ist nur ein wenn auch wichtiger Teil der gesamten Agenda-Arbeitsmarktreformen. Es ergänzt sozusagen als Beitrag von unten die Deregulierung der Arbeitsschutzgesetze und den entscheidenden Angriff auf das Flächentarifvertragssystem, das durch die Förderung der Tarifflucht in jeglicher Form zersetzt wird und wodurch immer größere Teile der Arbeiterschaft aus dieser Tarifbindung herausgebrochen werden.
Sozialverträgliche Gestaltung der Tarifflucht unter dem fälschenden Etikett einer neuen „Tarifbindung“
Auch dieses Gesamtsystem der endlosen Deregulierung der Arbeitsverhältnisse bleibt bei den bisherigen Versprechungen der Sozialstaatsreform ausgeblendet. Aber auf diesem Gebiet gibt es schon eine intensive sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Gewerkschaftsführung, die Tarifflucht durch eine Vielzahl von Niedrigtarifen und durch Tarife nur mit „Bausteinen und Rudimenten“ „sozialverträglich“ zu gestalten, was allerdings zunehmend durch Widerstandskämpfe der Kollegen mit ihrer Gewerkschaft für die Verteidigung und Rückeroberung ihres Flächentarifvertrags durchbrochen wird. Es dürfte einer Nahles nicht schwerfallen, weitere Vorschläge zu einer derartigen sozialverträglichen Gestaltung der Tarifflucht unter dem fälschenden Etikett einer neuen „Tarifbindung“ in ihr großes Reformprojekt einzubauen.
Für ihre Großreform stützt sich Nahles schließlich auf mehrere verabschiedete und geplante Gesetze und Maßnahmen, die ihr gleichzeitig als Beweise für die „Erneuerung der SPD“ durch ihre Regierungsarbeit in der Großen Koalition und als Rechtfertigung für deren Fortdauer dienen sollen. Solche angeblichen Korrekturen an den von der Agenda produzierten „Ungerechtigkeiten“ wurden in dieser Zeitung in Diskussionsbeiträgen auch von den Betroffenen und von gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterkämpfern als betrügerisch schon zurückgewiesen.
Die gesellschaftliche Mehrheit der Arbeitnehmer und Jugend ließ und lässt sich weder durch solche Ablenkungsmanöver noch durch das Gerechtigkeitspathos von Nahles` Ankündigung einer „Großen Sozialstaatsreform“ beeindrucken. Nach dem Debattencamp ist die SPD in den Umfragen weiter auf 14 % und in den einstigen Hochburgen in NRW und Berlin auf ein historisches Tief von 21%, bzw. 15% gefallen.
In der SPD bleibt Nahles mit ihrer Drohung vor dem regierungslosen Chaos und einer möglichen SPD-Katastrophe in Neuwahlen einerseits und ihrem gleichzeitigen Großversprechen einer großen Sozialstaatsreform allerdings nicht ohne Wirkung; zumal sie dafür die volle Unterstützung der DGB-Führungsspitze erhält. Die z.T. wütenden Rufe nach dem Raus aus der GroKo sind ermattet. Ohnmächtige Apathie breitet sich in großen Teilen der Mitgliedschaft und auch der Funktionäre aus. Teils zornige und teils resignierende Parteiaustritte nehmen zu.
Bei der Abstimmung über das angebliche „Pflegepersonalstärkungs-Gesetz“, das bei den Krankenhausbeschäftigten und Gewerkschaftsmitgliedern nur auf Entrüstung und eine ablehnende Diskussion stieß, hat die Fraktion der SPD-Abgeordneten geschlossen dafür gestimmt. Abgeordnete, die zuvor ein forsches „Raus aus der GroKo“ auf den Lippen führten, haben damit jede Glaubwürdigkeit verloren.
Umso mehr ragen mutige Stimmen wie aus der AfA hervor: „Die Mehrheit der Arbeitnehmer will, dass endlich Schluss gemacht wird mit der verhassten Agenda-Politik und Hartz IV. Als Ausdruck einer solchen politischen Lösung im Interesse dieser gesellschaftlichen Mehrheit könnte die SPD diese auch in Neuwahlen mobilisieren.“ Das wäre für die Arbeiterschaft die ökonomischste Lösung.
Mehr denn je gilt: Eine Befreiung der SPD aus diesem Niedergang kann es nur mit dem Raus aus der GroKo geben, um mit der selbstzerstörerischen Politik der Agenda und der Euro-Rettungspolitik Schluss zu machen.
Die DGB-Spitze spricht mit ihrer Position nicht im Namen und Interesse der Gewerkschaftsmitglieder und Arbeiterschaft. Vor allem in den Sektoren des öffentlichen Dienstes, von Dienstleistungen und Einzelhandel lassen sie sich nicht abhalten davon, mit ihrer Gewerkschaft den Kampf für „mehr Personal“ und für die Verteidigung, Eroberung und Rückeroberung ihrer Flächentarifverträge gegen das Hartz-IV-System und die grassierende Tarifflucht zu führen.
Carla Boulboullé
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