In einem neuen Appell hat Merkel am 2. November die Deutschen mit größtem Nachdruck ermahnt, sich den Notverordnungen staatlicher Ermächtigungen jenseits der parlamentarischen Demokratie zu unterwerfen. „Jeder und jede hat es in der Hand“. „Bleibt zu Haus“ hatte Merkel schon Mitte Oktober an die Bürger*innen appelliert. Sie wälzt erneut, wie schon zu Beginn der ersten Welle der Pandemie, die Verantwortung auf jeden Einzelnen ab. „Das Virus bestraft Halbherzigkeit“; d.h., wer sich infiziert, wird sich nicht konsequent genug den von der Regierung und den Ministerpräsidenten am Parlament vorbei diktierten Notverordnungen zur Unterdrückung seiner demokratischen und Freiheitsrechte untergeordnet haben. Für diese „schwerwiegendsten Einschränkungen ihrer Grundrechte“, die die Bürger jemals hinnehmen mussten (Handelsblatt 2. 11.) bedurfte es der Terrorisierung der gesamten Bevölkerung. „Die Kanzlerin schaltet auf kalkulierten Alarmismus.“ (Die Zeit, 22.10)
Über 83 Millionen Deutsche unter Kontaktsperre
Gesundheitsminister Spahn (CDU) sieht seine Stunde gekommen: Die starke Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten ist eine, wenn auch unvermeidbare, „bittere Medizin“. Er droht mit der. Abriegelung ganzer Gebiete und Städte und drängt auf eine Verlängerung ohne Verfallsdatum und eine Ausweitung der Verordnungsermächtigung für sein Ministerium. Beim Vollzug dieses „Bevölkerungsschutzgesetzes“ soll auch auf die Hilfe der Bundeswehr zurückgegriffen werden können. Mit der von der Großen Koalition unter der Führung von Merkel, und mit energischer Entschlossenheit von Spahn, vorangetriebenen Verstetigung der Sonderrechte der Regierung bildet sich zunehmend die Praxis eines autoritären Regimes heraus. Diese Verselbständigung der Exekutive wird getragen vom Grundkonsens aller etablierten Agenda-Parteien, sowie der „sozialverträglich gestaltenden Begleitung“ durch die Gewerkschaftsführungen.
Der Zusammenbruch der Krankenhäuser -
Kollaps der Pflegekräfte: eine Folge der vermehrten Krankheitsfälle durch das Virus?
Nein! Lange vor der Pandemie herrschte in den kaputtgesparten Krankenhäusern der Notstand. Im Spätsommer 2019 warnte die Deutsche Krankenhausgesellschaft vor einem drohenden Kollaps. Für die Intensivbetten fehlen die Pflegekräfte warnen DIVI-Vertreter (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin). Die Ärzte in deutschen Kliniken arbeiten am Limit.
Dennoch wurde kein Personal eingestellt, vielmehr werden weiter Krankenhäuser geschlossen, Betten abgebaut. Ausreichende Schutzausrüstungen und Masken fehlen noch immer. Überfüllte Notaufnahmen, Patienten auf Klinikfluren und Verschiebung von Operationen wegen der Engpässe gehören zum Klinikalltag. Die Verbreitung des Virus beim Pflegepersonal und Ärzten und die verweigerten notwendigen Finanzmittel führen zum Zusammenbruch der Krankenhausversorgung.
Die Zerstörung des Gesundheitswesens drückt sich auch in der totalen Überlastung der Gesundheitsämter aus, die schon vor Corona unter der Personalnot ächzten. Sie wurden nicht in die Lage versetzt, Infektionsketten nachzuvollziehen. Der Test-Stau liegt bei 100.000. Notwendige Beratungen und Bescheinigungen können nicht durchgeführt werden.
Und die Antwort von Spahn auf die fehlenden Schutzmittel und Personalnot? Jetzt (!) will er nach Monaten 290 Millionen Masken an Pflegeheime schicken.
Heil schickt Hunderttausende Soloselbständige in Hartz IV
Die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise haben viele Soloselbständige in den Ruin getrieben. Allein in der Kultur- und Kreativwirtschaft sind 1,8 Millionen betroffen. Nachdem die Regierung ihnen ihre Existenzgrundlage genommen hat, ruft Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sie alle auf, Hartz IV zu beantragen. Zynisch verweist er auf das Angebot des „vereinfachten Zugangs“ zu Hartz IV. Kulanz bei der Vermögensprüfung und eine befristete Übernahme zu teurer Wohnkosten gilt aber nur für Wenige. Man etabliert noch innerhalb der Hartz-IV-Betroffenen eine Zweiklassengesellschaft, so eine frühere Jobcentermitarbeiterin.
Gerechtigkeit?
Während immer neue Milliarden für die Rettung der Profite und Rendite fließen, werden nach Aussage des Direktors des Instituts der deutschen Wirtschaft (DIW), M. Hüther, in diesem Jahr 591.000 Menschen ihren Job verlieren, nach Wirtschaftsminister Altmeier (CDU) droht dieses Schicksal 400.000 Beschäftigten. Und das nach einer Welle von Arbeitsplatzvernichtungen schon vor Corona und trotz millionenfacher Kurzarbeit.
Absolute Gerechtigkeit kann sich die Gesellschaft in der Pandemie nicht leisten, hält Merkel den in ihren Existenzgrundlagen getroffenen Kulturschaffenden, Gastronomiebeschäftigte… entgegen. Sie begründet die neuen Corona-Maßnahmen damit, dass sie dem „wirtschaftlichen Ablauf dienen“. Die Notverordnungen treffen also keineswegs alle. M. Fratzscher, Präsident des DIW, ist überzeugt, dass eine lange zweite Infektionswelle größten Schaden für die deutsche Wirtschaft bringt und nicht die Grundrechtseinschränkungen.
Merkel sorgt sich. „Die aktuelle Lage macht uns Sorgen“. Welche Sorge heuchelt sie vor?
Merkel und die Kapitalvertreter sind sich einig, dass die Wirtschaft auf keinen Fall, z.B. durch Kita- und Schulschließungen, lahmgelegt werden darf. „Abstandhalten“ gilt aber nicht für die Millionen Arbeitnehmerinnen, die morgens und abends in überfüllte Busse und Bahnen gepfercht werden (was auch für die Schüler gilt). Schutzregeln sind oft genug am Arbeitsplatz außer Kraft. Dazu schweigt Merkel als Garantin für die Rendite- und Profitschöpfung in der Wirtschaft.
In der Bevölkerung „wachsen Zweifel, Skepsis und Ablehnung“ (Die Zeit, 2.11) an der Fähigkeit der Großen Koalition, die Pandemie einzudämmen, für deren unkontrollierbare exponentielle Ausweitung die zerstörerische Kaputtsparpolitik gegen die öffentliche Daseinsvorsorge, gegen Kommunen, Krankenhäuser, Schulen, ÖPNV, aber auch gegen die notwendigen Schutzmittel verantwortlich ist. Neun Monate nach Ausbruch der ersten Welle wird die Bilanz als Kontrollverlust und Staatsversagen der Regierung erfahrbar.
Die Empörung über die Grundrechtseinschränkungen nimmt zu, und z.B. auch darüber, dass Kinder und Jugendliche in den Schulen, in denen die Lehrer fehlen, in viel zu große Klassen bei unzureichenden Hygiene- und Schutzmaßnahmen geschickt werden. Die Glaubwürdigkeit einer Regierung schwindet, die alle Maßnahmen zur „Bekämpfung der Pandemie“ den Anforderungen des Kapitals und der Rettung des kapitalistischen Profits unterordnet.
Der Widerstand bricht sich mehr und mehr Bahn
So haben sich die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, in den Krankenhäusern, Kitas, beim ÖPNV… nicht davon abhalten lassen, trotz der Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und des Demonstrationsrechtes, die vor allem den kollektiven gewerkschaftlich organisierten Widerstand treffen sollten, sich im letzten Tarifkampf für ihre Forderungen zu mobilisieren, zu kämpfen und zu streiken – auch im Konflikt mit den Gewerkschaftsführungen.
Beschäftigte von Krankenhäusern aus sechs Bundesländern haben in einer Videokonferenz am 7. 11. darüber diskutiert, dass sie in ihrer Gewerkschaft ver.di für konkrete Vorbereitungsmaßnahmen für einen bundesweiten Tarifkampf aller Krankenhausbeschäftigten für einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für mehr Personal eintreten wollen.
Und sie haben beschlossen, in ihren jeweiligen Bundesländern für ein Sofortprogramm zur Überwindung der Notstandssituationen im Gesundheitswesen, finanziert durch zusätzliche Bundesmittel nicht aus dem Sparhaushalt (auf Kosten anderer Leistungen) initiativ zu werden.
Die „Soziale Politik & Demokratie“ ruft ihre Leser*innen auf, aktiv an diesen Initiativen mitzuwirken und ihre Erfahrungen über Berichte in der Zeitung auszutauschen.
Carla Boulboullé, 10. November 20
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