Regierungszynismus – eine soziale Sprengladung reift heran

Bundeswirtschaftsminister Habeck (Die Grünen) auf einer Pressekonferenz am 23. Juni:  Es brauche nun „Maßnahmen, die wirklich weh tun“.

Bundeskanzler Scholz warnt zum Auftakt der „konzertierten Aktion“ mit Spitzenvertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften Anfang Juli, Deutschland stünden schlechte Zeiten bevor. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass sich diese Lage auf absehbare Zeit nicht ändert“.

Der Regierungszynismus gegen das arbeitende Volk kennt keine Grenzen. Auf der Pressekonferenz am 22. Juli verspricht Scholz in einem Atemzug milliardenschwere Subventionen für den Energiekonzern Uniper. Er droht zugleich, dass die Energiekonzerne, die gerade Milliardengewinne verbuchen, spätestens ab Oktober die höheren Gaspreise an die Bürger*innen weiterreichen dürfen.

Das kostet Familien, nach Angaben des Bundes, noch einmal 225 bis zu 750 Euro pro Jahr. Und das in einer Situation, in der die Preise (für Energie, Lebensmittel, Mieten…) und die Inflation auf Rekordniveau klettern.

Lauterbach fordert eine deutliche Erhöhung der Zusatzbeiträge für die über 57 Millionen Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen. Mieten werden noch unbezahlbarer. Wärmestuben warten auf die aus kalten Wohnungen Vertriebenen. Dramatischer Anstieg der Zahl der in Armut lebenden Menschen auf 13,8 Millionen. Das versprochene 3. „Entlas-tungspaket“, für Anfang 2023 angekündigt, kommt zu spät und ist nur als Provokation zu bezeichnen. Die Rekordverschuldung der öffentlichen Haushalte soll durch drastische Einschnitte in die soziale Infrastruktur und z.B. durch Reallohnkürzungen abgewälzt werden. Der DGB sieht Millionen Arbeitsplätze bei Gaslieferstopp in Gefahr, Folge der von der Scholz-Regierung verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland,

Die folgenden viel zitierten markigen Sätze von Scholz auf der gleichen Pressekonferenz sind angesichts dieser Lage an Zynismus kaum zu übertreffen: „You’ll never walk alone. Wir bewältigen die schwierigen Zeiten gemeinsam, wir halten zusammen; das ist entscheidend. Niemand wird mit seinen Herausforderungen und Problemen alleingelassen.“

Immer wieder beschwört Scholz die Gemeinsamkeit von Regierung und Volk. Die Herrschenden fürchten als Folge ihrer sozialen Zerstörungsoffensive eine Explosion der sozialen Sprengladung, den heißen Herbst. Doch das hindert die Arbeitgeber nicht zu fordern, die Deutschen sollten mehr und länger arbeiten, d.h. Rente mit 70 Jahren. ( Arbeitgeberchef Wolf).

 „Vor einer sozialen  Zerreißprobe“

„Sozialer Sprengstoff“, titelt die Berliner Zeitung (3.8.22) und zitiert Habeck mit der Frage, ob die politischen Maßnahmen angesichts der Preisexplosion ausreichen, um den „gesellschaftlichen Frieden“ aufrechtzuerhalten? Der Gasmangel werde „Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen, die wir lange so nicht hatten“. Nach eigener Aussage „sehr zugespitzt formuliert“ drückt Außenministerin Baerbock (Die Grünen) die panische Angst aus, die die Herrschenden umtreibt: „… bekommen wir kein Gas mehr, sind wir mit Volksaufständen beschäftigt.“ Fast jeder zweite Deutsche will wegen der hohen Energiepreise auf die Straße gehen, wenn es zu Demonstrationen kommt (laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa). Innenministerin Faeser (SPD) warnt im Handelsblatt vor „radikalen Protesten“, und bringt die Sorge in der SPD-Fraktion vor einem „heißen Herbst“ zum Ausdruck. In vorsorglicher Reaktion diffamiert Faeser schon jetzt demagogisch die zu erwartenden Demonstrationen als von Rechtsextremisten und Reichsbürgern geführt. Das soll harte Polizei- und staatliche Gegengewalt rechtfertigen.  „Wir sind vorbereitet, auch auf mögliche neue Protestgeschehen“, so Faeser.

Scholz beschwört „Geist der Gemeinsamkeit“

Angesichts dieses Heranreifens der sozialen Sprengladung muss Scholz die Gewerkschaftsführungen noch enger einbinden. Im Rahmen einer „konzertierten Aktion“, zu der er Spitzenvertreter von Arbeitgebern und Gewerkschaften eingeladen hat, will er ein Instrumentarium zu einem Frontalangriff auf die historische Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung schmieden. (s. auch „Soziale Politik & Demokratie“, Nr. 471)

So haben die von Scholz vorgeschlagenen Tarifabschlüsse zu Einmalzahlungen die Zersetzung des Tarifvertragssystems zum Ziel. Diese Provokation hat heftige Diskussionen und Proteste in den Gewerkschaften ausgelöst und die Forderungen nach Sicherung des Inflationsausgleiches durch die Tarifverträge gestärkt: gegebenenfalls auch über Nachverhandlungen oder selbst Kündigung des Tarifvertrages vor Ende der Laufzeit.

Nach der massiven Ablehnung in den Gewerkschaftsdebatten und der Welle von Streiks für die Verteidigung des Reallohns und eines wirklichen Inflationsausgleichs haben die Gewerkschaftsführungen erst einmal den Versuch, über Einmalzahlungen Lohnverzicht zu erzwingen, zurückgewiesen.

So erklärte der ver.di-Chef Frank Werneke: „Wenn ich auf die großen Tarifrunden im kommenden Jahr blicke (…) sehe ich überhaupt keinen Grund, eine Tarifpolitik mit angezogener Handbremse zu machen. Die Beschäftigten brauchen mehr Geld. Wir werden diese Auseinandersetzung konsequent und mit der notwendigen Härte führen. (…) Wir brauchen dauerhaft höhere Löhne. Einmalzahlungen reichen nicht.“

Das ändert allerdings nichts daran, dass in der Praxis auch die ver.di-Führung in den letzten Monaten, in denen die Inflation schon grassierte, trotz großen Unmuts der Kolleg*innen immer wieder Tarifabschlüsse vereinbart hat, bei denen die tabellenwirksamen Gehaltserhöhungen – zum Teil weit – unter der Inflationsrate lagen, und das bei oft sehr lange Laufzeiten.

Eine Welle von Kämpfen und Streiks

- das ist die Antwort der Arbeiter auf die Angriffe zur Senkung der Löhne und des Lebensstandards:

Den Auftakt machten die Stahlarbeiter, die mit ihren Streiks für die Forderung nach 8,2% mehr Lohn ein Zeichen setzten. Die IG Metall fordert jetzt für die vier Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie 8 %, um die Verteuerung durch die Inflation auszugleichen.

Mit massiven Streiks kämpften die Beschäftigten der kommunalen Sozial- und Erziehungsdienste für die Forderungen nach mehr Personal und Reallohnerhöhung.

In einem großartigen, annähernd halbjährigen Arbeitskampf mit 11 Wochen unbefristetem Streik haben die Beschäftigten der sechs Unikliniken in NRW mit ihrer Gewerkschaft ver.di für einen Tarifvertrag für mehr Personal an den Kliniken und Krankenhäusern NRWs gekämpft. Der Versuch eines Streikverbots am Uniklinikum Bonn wurde von den Kolleg:innen erfolgreich zurückgewiesen.

Die Beschäftigten der Raffinerie in Schwedt kämpfen, unterstützt von den Beschäftigten der Unternehmen aus der ganzen Uckermark, für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze und damit der industriellen Produktion in ganz Ostdeutschland. (s. auch Artikel S. 5-6)

Die Hafenarbeiter sind in den härtesten Streik seit über 40 Jahren getreten: für kräftige Lohnerhöhungen zur Reallohnsicherung, für einen „tatsächlichen Inflationsausgleich“. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger (BDA) hat versucht mit einem unerträglichen Angriff auf das Streikrecht durch einen Gerichtsbeschluss die Kampfbereitschaft der Kolleg*innen zu zerschlagen, 1000e antworteten mit einem wütenden Protestzug durch Hamburg. Die ver.di-Führung hat sich in einem gerichtlichen Vergleich auf eine „Friedenspflicht“ eingelassen, durch die weitere Streiks für sechs Wochen, bis zum 26. August, ausgesetzt sind. (s. auch Artikel S. 7-8)

Juli 2022: ver.di hat die etwa 20.000 Bodenbeschäftigten der Lufthansa bundesweit zu einem eintägigen Warnstreik aufgerufen und den Flugbetrieb der Lufthansa damit weitgehend lahmgelegt. Die Forderung: bei zwölf Monaten Laufzeit 9,5 Prozent mehr Geld. Dabei wurden Tariferhöhungen von bis zu 26 Prozent und damit trotz hoher Inflation Reallohnzuwächse erreicht.

In der Vorbereitung auf die TVöD-Tarifrunde für die 2,3 Millionen Beschäftigten in Bund und Kommunen öffentlicher Dienst 2022/2023 fordern Vertrauensleute und Kolleg*innen u.a. zweistellige Lohnabschlüsse, einen Inflationsausgleich plus 2%, bei 12-monatiger Laufzeit.

Es muss endlich Schluss gemacht werden mit der Politik der sozialen Zerstörungsoffensive!

Aufruf der Populären Linken

Auf dem bundesweiten Arbeitnehmertreffen am 25. Juni, zu dem politisch und gewerkschaftlich engagierte mit dieser Zeitung verbundene Kolleg*innen eingeladen hatten, wurde diskutiert, wie alle gegen Scholz gerichteten Kämpfe und Forderungen zusammengeführt werden können. (s. „Soziale  Politik & Demokratie“, Nr. 471) Es wurde auch der Vorschlag für ein weiteres Arbeitnehmertreffen im Herbst gemacht: Wie weiter im Kampf für Verteidigung des Reallohns; für einen allgemeinen Preisstopp?

Die Arbeiterschaft und Jugend können nicht akzeptieren, dass sich die Gewerkschaftsführungen im Namen des von Scholz diktierten Credos der Gemeinsamkeit von Regierung und Volk dieser sozialen Zerstörungsoffensive unterwerfen.

Da macht der „Aufruf für eine Populäre Linke“ von Sahra Wagenknecht in Verbindung mit dem Eingreifen von Oskar Lafontaine Hoffnung (s. auch S. 4 und 5 und „Soziale  Politik & Demokratie“, Nr. 470):  „Eine Linke, die mutig und populär an den Alltagssorgen der Bevölkerung ansetzt, wird angesichts der explodierenden Preise, die bis hinein in die Mittelschicht vermutlich zu finanziellen Katastrophen führen wird, dringend gebraucht. Es ist unsere Pflicht, uns vor die Menschen zu stellen und Protest mit zu organisieren.“ (s. Brief S. 4)

Bisher haben über 6400 Gewerkschafter und politische Arbeiterkämpfer den Aufruf für eine „Populäre Linke“ unterzeichnet. Wir laden alle unsere Leser*innen und alle in den „Politischen Arbeitskreisen für eine Unabhängige Arbeitnehmerpolitik“ engagierten Kolleg*innen ein, den Aufruf zu unterzeichnen. Und sich in die in dem Brief vorgeschlagenen Diskussionen und in die Vorbereitung einer Konferenz im späten Herbst einzubringen.

Carla Boulboullé

 

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