Nachdem der Internationale Währungsfonds (IWF) Finanzminister Lindner noch kürzlich für seine Sparpolitik gegen Investitionen auch in die produktive Wirtschaft (das heißt, nicht für die Aufrüstung) gelobt hat, mahnt er jetzt, angesichts der Wachstumskrise der deutschen Wirtschaft, die Vorgaben der Schuldenbremse zu lockern und mehr zu investieren.
Die Wirtschaftskrise in Zahlen
Im letzten Quartal 2022 ist das Bruttoinlandsprodukt um 0,4 Prozent geschrumpft (Statistisches Bundesamt). Im ersten Quartal 2023 verbuchte die deutsche Wirtschaft eine Verschärfung des Niedergangs. Im März kam es zu einem Rückgang der Industrieproduktion um 3,4% im Vergleich zum Vormonat. Der Rückgang der Aufträge für die Industrie betrug im März 10,7%, ebenfalls im Vergleich zum Vormonat. Auch die deutschen Exporte brechen wegen der schwächeren Nachfrage aus den USA und China im März um 5,2% ein; die Importe sanken sogar um 6,4% im Vergleich zum Vormonat. Im April waren 2.59 Millionen Menschen arbeitslos, 276.000 mehr als im Vorjahr.
Der Niedergang der produktiven Wirtschaft gewinnt eine noch viel drastischere Dimensionen, wenn man den explodierenden Anstieg der Investitionen in die Rüstungs- und Kriegswirtschaft (die nur auf Tod und Vernichtung ausgerichtet sind) auf Kosten der produktiven Wirtschaft berücksichtigt.
Und nicht zu vergessen sind die 100te Milliarden an öffentlichen Subventionen und Schulden, mit denen der wirtschaftliche Einbruch verschleiert wird.
Die ökonomische Krise der Bunderepublik nimmt eine neue Qualität an.
Das ist historisch. Erstmalig seit 1949, d.h. seit über 70 Jahren, ist mit dem Rückgang der Wirtschaft Ende 2022 die stetig ansteigende Wachstumskurve und der gesamte Wirtschaftsexport eingebrochen.
Schon die Finanzkrise von 2009/2010 war nicht nur Ausdruck einer vorübergehenden Schwäche, sondern schon Teil der Krise des Weltfinanzsystems. In ihr fand die Krise des kapitalistischen Weltsystems ihren Ausdruck auf Finanzebene. Das hatte natürlich Auswirkungen auf die reale Produktion und den Handel.
Die neue Phase der ausweglosen Krise des imperialistischen Systems, die sich in der weltweiten Schrumpfung von Produktion und Handel niederschlägt, fand in Deutschland ihren Ausdruck zunächst auf politischer Ebene. Das Wahlergebnis von 2021, aus dem die Koalition von SPD mit FDP und Grünen unter Kanzler Scholz hervorging, bedeutete den Zusammenbruch der seit 1949 existierenden politischen Herrschaftsordnung, die sich auf die beiden Säulen der Parteiendemokratie, CDU und SPD, stützte (siehe „Soziale Politik & Demokratie“, Nr. 457 und 458).
„Schweiß und Tränen als großer Boom“
In der jetzigen Wirtschaftskrise wollen die meisten Ökonomisten nur eine konjunkturelle Delle, eine vorübergehende Rezession erkennen. Allerdings sprechen einige unter ihnen zögernd von einer historisch erstmaligen ökonomischen Krise. Es handelt sich, um im Klartext zu sprechen, um eine historische Krise, um den beginnenden Nieder- gang der gesamten Wirtschaft der führenden Industrienation Europas.
Das ist nicht nur eine konjunkturelle Delle.
Während Olaf Scholz von einem „grünen“ Wirtschaftswunder, vergleichbar mit dem Wirtschaftswunder nach dem 2. Weltkrieg schwadroniert (damals wuchs das Bruttoinlandsprodukt um die 8%), erklärt der FAZ-Kommentator: „Mit der deutschen Realität hat das leider nichts zu tun.“ (FAZ, 29.4.2023) Der Ifo-Präsident kontert, eher „Schweiß und Tränen als großer Boom“.
Als wenige Beispiele des Niedergangs seien hier genannt: Der Anteil der Industrieproduktion am BIP sinkt nirgendwo in Europa so stark wie in Deutschland. Der Prozess der Entindustrialisierung trifft Deutschland mit besonderer Härte. Vor allem aber die Länder Ostdeutschlands mit einer zweiten Welle der Deindustrialisierung nach der von 1991-93, die auch die wenigen, von Kohl verheißenen industriellen Leuchttürme (Filialen der Westkonzerne) nicht verschonte.
Die Explosion der Energiepreise hat zusammen mit der Steigerung der Lebensmittelpreise und der Wohnungsmieten eine Inflation genährt, die, entgegen den Versprechungen der Regierung, noch immer knapp auf 8 % verharrt. Arbeitsplatz- und Reallohnverlust, Inflation sowie eine brutale Sparpolitik haben große Teile der arbeitenden Bevölkerung in Massenarmut gestürzt. Viele Familien wissen nicht wie sie bis zum Monatsende über die Runden kommen sollen.
Erstmalig sinkt die Zahl der Beschäftigten in der produktiven Wirtschaft allgemein und wieder besonders in der Industrie. Schließungen mehren sich, Arbeitslosigkeit steigt, Anstieg der Kurzarbeit, Entlassungen, Pleiten (Insolvenzen) vor allem im Handwerk, von Kleinbetrieben, im Gaststättengewerbe. Die Produktion in der Chemieindustrie schrumpfte schon 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 6,6 Prozent und die der energieintensiven Chemie allein um fast 12 Prozent, von der Autoindustrie ganz zu schweigen.
Vodafone entlässt zum Beispiel 1.300 Vollzeitkräfte in Deutschland, Philips streicht rund 400 Arbeitsplätze, Pigmente-Produzent Heubach will 250 Arbeitsplätze von 1.000 streichen, der Pharma- und Chemiekonzern Merck will 600 Stellen am Stammsitz Darmstadt abbauen, der Batteriekonzern Varta hat den Abbau von 390 Stellen angekündigt, der weltweit größte Chemiekonzern BASF will Hunderte Mitarbeiter in Deutschland entlassen, so auch der Mode-Onlinehändler Zalando. Und die Düsseldorfer Modekette Peek & Cloppenburg mit 67 Filialen in Deutschland hat ein Schutzschirm-Insolvenzverfahren bean tragt. Die Reihe lässt sich täglich erweitern.
Als Konsequenz aus der Sparpolitik der Regierung sehen sich Kommunen zu Schließungen öffentlicher Einrichtungen gezwungen. Das Gesundheits- und Schulsystems, Unis und Kitas stehen vor dem Zusammenbruch (s. Beispiele in den letzten Nummern der „Sozialen Politik & Demokratie“).
Diese Situation wird verschärft durch den Wirtschaftskrieg der USA gegen Europa. Die von den USA aufgezwungene Sanktionspolitik gegen Russland, der sich Scholz unterwirft, war die Ursache für das Hochschnellen der Energiepreise in Deutschland und hat viele Betriebe zur Aufgabe gezwungen. Nach Prognosen des BDI wollen etwa 20% der deutschen Industrie in die USA abwandern.
Wenn Scholz von einem zu erwartenden „neuen Wirtschaftswunder“ (s. Soziale Politik & Demokratie“, Nr. 486) schwafelt, will er darüber hinwegtäuschen, dass seine Regierung das Land einer verheerenden Deindustrialisierung und Verteuerung ausliefert.
Alle Parteien der Ampel-Regierung brüsten sich mit Plänen für „Entlastungen“, die sich aber für die Mehrheit der Bevölkerung als betrügerische Korrekturen entlarven. Das Einzige, was es an Entlastungen gibt, sind die enormen Subventionen für Unternehmen und die Großkonzerne, wie für Energiekonzerne und die Automobilindustrie.
Hier präsentiert sich vor allem Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) als der große Macher: Er will den Strompreis für die Industrie mit bis zu 30 Milliarden an staatlichen Hilfen (bisher erst einmal vorgesehen) langfristig auf 6 Cent (kWh) senken, wie gewohnt, „zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.“
Ein „Wirtschaftswunder“ gibt es nur in der Form der staatlich geförderten Aufrüstung, sowie die Milliarden für die Sicherung des Herrschaftssystems Selenskyjs.
Krise – Lug – Betrug, das sind die Merkmale, die diese Ampel-Regierung unter Scholz charakterisieren
Breitere Arbeiterschichten kämpfen für inflationssichere Tarifverträge und Sicherung des Reallohns; gegen die Schließung der Krankenhäuser und Kinderkliniken, gegen fehlende Lehrer und Klassenräume, die dafür verantwortlich sind, dass Schulkinder der 4. Klasse nicht lesen können …
Das erklärt die wachsende Zahl der Wahlverweigerer, die, statt wählen zu gehen, zu Zehntausenden gegen die Kriegspolitik, für einen sofortigen Waffenstillstand demonstrieren; oder über Stimmabgaben ihren Protest gegen die Politik der etablierten Parteien signalisieren.
Alle Kämpfe, Aktionen, Demonstrationen und Streiks richten sich gegen die kriegstreibende, sozialzerstörerische und antidemokratische Politik der Regierung Scholz. Wie können wir helfen, damit sich diese Bewegung durch Organisierung und Zentralisierung zu einer Gegenmacht zur herrschenden Regierung entwickelt?
In Artikeln der nächsten Ausgaben der „Sozialen Politik & Demokratie“ soll darauf geantwortet werden, notwendigerweise in mehreren und nuancierenden Beiträgen.
Werner Uhde, Carla Boulboullé, 23.05.2023
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