Mainz: Das ist der Zusammenbruch einer öffentlichen Dienstleistung, auf die jedes Mitglied der Gesellschaft ein vom Grundgesetz garantiertes Recht hat und worauf die Bahn durch ihre gesetzliche Betriebspflicht, sowie das Grundgesetz verpflichtet ist.
In die Fassungslosigkeit der Bevölkerung mischt sich Wut – vor allem gegenüber der dafür verantwortlichen Kaputtsparpolitik, die schon mit der Bahn-Reform 94 eingeleitet wurde und dann im Rahmen der Agenda-Politik unter Schröder und verschärft in der Großen Koalition und unter der Merkel-Regierung fortgesetzt wurde.
Der Mainzer Zusammenbruch wirft ein schonungsloses Licht auf eine Bahn, die im ganzen Bundesgebiet und als Gesamtsystem von solchen Ausfällen bedroht ist. Schon zu Viele haben täglich Ähnliches erlebt. Und das schließt z.B. das Chaos bei der Berliner S-Bahn ein, die zu diesem Bahnsystem gehört.
Das ist die Bilanz der Schrumpfung einer öffentlichen Dienstleistung:
Im Rahmen der Kostensenkungspolitik wurde das Personal bei der Bahn seit den 90er Jahren halbiert (auf heute knapp 288.000). Personalmangel auch bei den Lokführern, Zugbegleitern und Werkstätten…
Seit 1994 wurden in Deutschland über 490 Schienenstrecken (über 5100 km) als „unprofitabel“ stillgelegt. Die Sicherheit wird ob bei Bremsen, Achsen usw., z.B. auch durch den Abbau von Aufsichten (bei der Berliner S-Bahn sollen auf allen Bahnhöfen alle Aufsichten wegfallen) in unverantwortlicher Weise beschädigt. Verkehrsminister Ramsauer hat den Bahn-Chef Grube verpflichtet, statt bisher 525 Mio. Euro ab 2014 an den staatlichen Eigentümer 700 Mio. Dividende zu zahlen.
Auf der anderen Seite der Bilanz stehen Rekordgewinne der Bahn: 2,7 Mrd. Euro vor Steuern. Und Rainer Brüderle stellt fest, dass es an der Zeit sei für einen Börsengang der Bahn.
Sparen, „Haushaltskonsolidierung“ und Senkung des Haushaltsdefizits: das ist eine der beiden zentralen Säulen der von Schröder eingeführten Agenda-Politik. Das aber heißt, schonungslose Demontage und Privatisierung der Öffentlichen Dienstleistung, um wettbewerbsfähige Gewinne rauszupressen.
Eine Politik, die von der Großen Koalition unter Merkel und bis heute durch die Merkel-Regierung mit immer einschneidenderer Wirkung fortgesetzt wird. Die gesamte öffentliche und soziale Infrastruktur bricht unter dieser Kaputtspar- Politik ein, während horrende wettbewerbsfähige Gewinne auf Kosten der Substanz verbucht werden können.
Die Teilzusammenbrüche der öffentlichen Dienstleistungen sind zum alltäglichen Erscheinungsbild geworden: Der Investitionsstau in den Kommunen beträgt 130 Mrd. Euro. In Straßenbau und Verkehr müssten 33 Mrd. Euro investiert werden. In den Schulen: 22 Mrd. Euro; in die Gesundheitsinfrastruktur 7,7 Mrd. Euro, in die Kinderbetreuung 6,4 Mrd., Sportstätten und Bäder 10,2 Mrd. und in die Wohnungswirtschaft 3,8 Mrd. Euro. (alle Zahlen zit. nach Förderbank KfW, Mai 2013). Nicht zu reden von den nichtfinanzierten Studienplätzen an den überfüllten Universitäten; vom Pflegenotstand…
Und die zweite Säule der Agenda-Politik: Lohnkostensenkung durch Schaffung eines Millionenheeres vom Armutslöhnern und Billigjobbern und Zersetzung der Flächentarifverträge. Die arbeitende Bevölkerung ist sechs Wochen vor der Wahl damit konfrontiert, dass Steinbrück und die SPD-Führung diese Agenda-Politik, die Merkel in alle europäischen Länder exportiert, toleriert, unterstützt und über Landesregierungen und in Kommunen selbst exekutiert haben.
Steinbrück überbietet sich selbst – wie auch Merkel – mit Versprechungen von Korrekturen an den Verwüstungen der Agenda-Politik. Gleichzeitig setzen sozialdemokratische Landesregierungen, wie in NRW und Berlin, im Namen der Schuldenbremse eine brutale Sparpolitik um, über Kürzungshaushalte, Tarifflucht und Lohnsenkungsdiktate, Privatisierungen …
Doch Steinbrück und die SPD-Führung – wie auch Merkel – lassen keinen Zweifel aufkommen an ihrer bedingungslosen Verpflichtung auf die Sparpolitik/Schuldenbremse, die Struktur- und Arbeitsmarktreformen und auf die Gebote der europäischen Verträge, um weitere Milliarden für die Banken- und Eurorettung zu gewährleisten. Unabhängig von der genauen Form und Zusammensetzung der kommenden Regierung muss sie das zu ihrem Programm machen.
Wirkliche Korrekturen verlangen dagegen die Milliarden-Finanzierung für die dringend benötigten Investitionen an den Schulen, Krankenhäusern, bei der Bahn…
Niemand kann glauben, dass für Steinbrück und Merkel, die sich auf die Erzwingung der Spar- und Deregulierungsmaßnahmen verpflichtet haben, die hehren „Wahlversprechungen“ nach der neuen Regierungsbildung Bestand haben werden. Und am wenigsten glauben sie, die bewusste Wählertäuschung betreiben, es selbst.
Für die Wähler gibt es keine wirkliche Wählerentscheidung. Für die arbeitende Bevölkerung und Jugend, die wollen, dass endlich Schluss gemacht wird mit dieser zerstörerischen Politik, gibt es in diesen Wahlen keine Perspektive.
Gleichzeitig haben sich die Arbeitnehmer mit ihren Gewerkschaften, in Anknüpfung an 2012, seit Anfang dieses Jahres in Warnstreiks, Streikbewegungen und Demonstrationen in Tarifkämpfen, im Kampf gegen Kürzungspolitik und Sozialabbau, für Reallohnerhöhungen, Tarifverträge, Verteidigung der Arbeitsplätze mobilisiert.
Wo es ihnen gelingt, die Gewerkschaften gegen den Druck der Schuldenbremse und Wettbewerbsfähigkeit in diese Kämpfe zu ziehen, können sie wirkliche Korrekturen an der Agenda-Politik erreichen, Tarifverträge erkämpfen und sich schrittweise aus Billiglohnverhältnissen befreien. Auf diesem Weg muss weiter gegangen werden, er muss gefördert werden – vor und nach der Wahl.
In dieser Ausgabe der „Sozialen Politik & Demokratie“ veröffentlichen wir Diskussionsbeiträge aus der Vorbereitung der Arbeitnehmerkonferenzen am 15. September, zu der sozialdemokratische GenossInnen mit der Erklärung „Worum kann es bei den Wahlen am 22. September noch gehen?“ eingeladen haben.
Sie erklären, dass sie als SPD-Mitglieder für die SPD und ihre Kandidaten stimmen werden – gegen die Steinbrück/SPD-Führung und ihre Konsenspolitik mit Merkel; gegen die sich vorbereitende Große Koalitionsregierung mit Merkel. Sie betonen gleichzeitig, dass sie keine Illusion in das unmittelbare Wahlergebnis haben und alle KollegInnen verstehen, die von dieser SPD-Politik wie schon 2009 in die Stimmverweigerung getrieben werden.
Sie wenden sich an alle GewerkschafterInnen, SozialdemokratInnen und politisch Engagierte, die dafür kämpfen wollen, dass Schluss gemacht wird mit der zerstörerischen Agenda-Politik und deren Fortsetzung in einer wahrscheinlichen Großen Regierungskoalition nach der Wahl und laden sie ein, sich als politische Kraft im Kampf gegen diese Politik zu versammeln.
Carla Boulboullé
Aus: Soziale Politik & Demokratie Nr. 304 vom 15. August 2013
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