Die massive Ablehnung des von der Gabriel-Führung betriebenen Einzugs in die Große Koalition durch die SPD-Mitgliederbasis hat alle Abwehrmaßnahmen der Parteiführung durchbrochen und sich Ausdruck auf dem SPD-Bundesparteitag verschafft. Sie traf direkt auch die SPD-Führungsspitze, die von den Delegierten mit deutlich schlechteren Wahlergebnissen gegenüber 2011 abgestraft wurde.
In seiner Rede führte Gabriel als Begründung für die Wahlniederlage der SPD an: „Der Zwiespalt der Agenda-Politik war von uns nicht auszuräumen.“ „62 Prozent (der Bevölkerung)“, so die Bilanz von Gabriel, „meinen, damit (mit der Agenda 2010 von Schröder) habe die SPD ihre Prinzipien verraten.“
Gabriel kann den Problemen nicht ausweichen und muss weiter feststellen: „Nie war das Misstrauen in unserer Parteiorganisation so spürbar wie in den letzten Wochen: die da oben, wir hier unten. Dieses Misstrauen ist nicht in den letzten Wochen entstanden, sondern seit Jahren gewachsen, vielleicht seit Jahrzehnten (…)“ Um zu versprechen: „Wir werden kein zweites Mal eine Politik machen, bei der die SPD gegen ihr eigenes Selbstverständnis verstößt.“ Doch geht es tatsächlich nicht darum, mit „Vergangenem“ aufzuräumen… wo er gerade dabei ist, die SPD in die Große Koalition unter Merkel zu zwingen, um eine solche Politik fortzusetzen.
Eine wirkliche Bilanz darüber, warum gerade die Arbeitnehmerwähler der SPD die Stimme verweigert haben, wird auf dem Parteitag nicht zugelassen. Denn die SPD-Führung hat nicht nur die fortgesetzte Agenda-Politik in der ersten großen Koalition unter Merkel mitgetragen, was zu ihrem tiefen Absturz in den Wahlen 2009 geführt hat. Sondern die SPD-Führung unter Gabriel selbst hat in den letzten vier Jahren in einer faktischen politischen großen Koalition Merkels Euro-und Bankenrettungspolitik unterstützt und begleitet: die Agenda-Politik der Schuldenbremse, der sozialen Demontage, des Lohndumpings und der Zersetzung der Tarifverträge sowie deren Umsetzung in Ländern und Kommunen.
Deshalb haben die Arbeitnehmerwähler den Wahlversprechungen der SPD-Führung nicht getraut; dafür musste die SPD ihr zweitschlechtestes Wahlergebnis verbuchen; deshalb „misstrauen“ auch weiterhin so viele GenossInnen dieser Führung, die für diese Politik die Verantwortung trägt. Das ist der Grund für die „Kluft zwischen den SPD-Repräsentanten und ihrer Kernwählerschaft“, die, so Gabriel, ihm „am meisten Kopfzerbrechen“ macht.
Und so wie die Arbeitnehmerwähler lässt sich auch die Mitgliederbasis der SPD nicht länger täuschen: „Nein zur Großen Koalition! Mit Merkel kann es keinen Politikwechsel geben!“ stand auf dem Transparentbei der Demonstration der SozialdemokratInnen vor dem Konvent in Berlin am 20.10.
Dem angeblichen Aufräumer mit dem misstrauen sie, weil sie von ihm die sehr aktuelle Fortsetzung dieser Euro-Rettung und Agenda-Politik befürchten. Und dass der eigentliche Grund für den Drang in die Große Koalition der ist, Kanzlerin Merkel zu helfen, diese Fortsetzung gegen alle Widerstände in Deutschland und Europa durchzusetzen.
Schon die ersten Verhandlungsrunden von Union und SPD bestätigen die tiefe Skepsis der Mitglieder. So schreiben Genossen eines Frankfurter Ortsvereins zur Begründung ihrer Ablehnung der großen Koalition und der Forderung, die Koalitionsverhandlungen zu beenden:
„Alle wirklichen sozialen Korrekturen, jeder wirkliche, sozialdemokratische Politikwechsel stößt auf die dreifache Mauer: Unter den Zwänge der Schuldenbremse wurden für 2014 die strukturelle Null und für 2015 grundsätzlich die Null-Schulden festgelegt. Auf diesen „Finanzierungsvorbehalt“ haben sich die Verhandlungsführungen von Union und SPD gemeinsam verpflichtet. Generell müssen punktuelle Korrekturen an der einen Stelle durch Kürzungen an anderer Stelle kompensiert werden…“ Und sie verweisen z.B. darauf, dass keine nennenswerten Finanzmittel aufgeboten werden können, um das Milliarden-Investitionsloch für die öffentliche und soziale Infrastruktur zu stopfen, oder das Kaputtsparen der Kommunen zu stoppen.
Nachdem schon der EU-Kommissionspräsident Barroso die neue Bundesregierung ermuntert hat, weiter zu „sparen“, unterstreicht jetzt auch EZB-Direktor Asmussen (SPD) den Auftrag der EU an die Koalitionsregierung von Union und SPD: „Die Schuldenbremse muss eingehalten werden. Wer dann mehr Investitionen will, muss die staatlichen Konsumausgaben senken.“ Und er betont: „Eine Große Koalition rechtfertigt sich nicht durch große Ausgaben, sondern nur durch große Reformen.“(!) (Interview in Neue Osnabrücker Zeitung, 13.11.2013)
Die Entscheidung, in die Koalitionsverhandlungen einzutreten, wurde gegen erklärte ein Genosse für viele auf dem Parteitag. Und dafür wird die SPD mit einem Zerreißprozess einen zerstörerischen Preis bezahlen, weil sie ihre politische Identität verspielt.“ (Frankfurter Antrag)
63 Delegierte unterstützten mit ihrer Unterschrift einen Initiativantrag, mit dem der Parteitag aufgefordert wird, den Mitgliedern der SPD zu empfehlen, „die Weichen gegen eine GroKo zu stellen“. Sie wollten damit der Mehrheit der SPD-Mitglieder auf dem Bundesparteitag eine Stimme geben!
Ihr Kampf für das Nein zur Großen Koalition, mit dem die SPD „zum Steigbügelhalter für eine weitere Kanzlerschaft Merkels gemacht wird“, verbindet sich mit dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung, dass endlich Schluss sein muss mit der zerstörerischen Agenda-Politik; ein Wille, der seinen Ausdruck in zunehmenden Streiks und Widerstandsbewegungen findet: gegen die Deregulierung von Tarifverträgen, wofür u.a. die monatelangen Streiks der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft im Einzelhandel stehen; oder gegen die brutale Sparpolitik gegen die Kommunen, wofür beispielhaft auf den Kampf von ver.di und der Kollegen in Berlin für das „Nein der Abgeordneten zum Kaputtsparhaushalt“ hingewiesen werden kann.
Dass die SPD-Führung angesichts des Mitgliedervotums größte Sorgen umtreiben, zeigt sich in dem eindringlichen vom DGB-Vorsitzenden Sommer unterstützten Appell Gabriels, an alle Delegierten, an alle Funktionäre der Partei, sich für die Annahme der Koalitionsvereinbarung auch die „Nächte um die Ohren“ zu schlagen – bei der „Überzeugungsarbeit“ in der Basis.
Angesichts des Mitgliedervotums erklärte Lars Winter, Kreisvorsitzender der SPD Ostholstein und Abgeordneter im Landtag von Schleswig-Holstein, dass er eine Halbierung der Mitgliederzahl fürchtet, wenn die SPD in die große Koalition mit der Union eintritt. Sein Kreisverband will die große Koalition ablehnen.
Diese tiefe Ablehnung der Mitgliederbasis hat die SPD-Führung auf dem Bundesparteitag nicht überwinden können. Sie wird auch trotz allem – in dieser oder jener Form – in dem Mitgliedervotum zum Ausdruck kommen. Die sozialdemokratischen Genossen sind eingeladen, alles für das Nein der Mitglieder beim Mitgliedervotum zu tun. Sozialdemokraten und Gewerkschaftskollegen laden ein, sich zu versammeln, um zu diskutieren, wie sich der Widerstand gegen die Große Koalition und die Fortsetzung der zerstörerischen Merkel-Politik zu einer politischen Kraft organisieren kann.
Carla Boulboullé
Aus: Soziale Politik & Demokratie Nr. 310 vom 21. November 2013
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