Erste Erfahrungen mit der Politik der neuen Großen Koalition

Die neue Große Koalitionsregierung lobt die Tarifeinigung in der fleischverarbeitenden Industrie und hat der Branche eine Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz in Aussicht gestellt, d.h. sie soll nach den Regeln des Entsendegesetzes für allgemeinverbindlich erklärt werden.

Damit soll der zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und der Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss (ANG) ausgehandelte Mindestlohntarifvertrag für alle 80.000 Beschäftige bindend werden – besonders auch für osteuropäische Werkvertragsarbeiter, die in hiesigen Schlachthöfen für Subunternehmen der deutschen Fleischhersteller tätig sind und mit Schandlöhnen und unmenschlichen prekarisierten Arbeitsverhältnissen als moderne Lohnsklaven gehalten werden.

Die Vereinbarung liege auf der Linie dessen, was die Regierungskoalition zum Mindestlohn vereinbart habe, so der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU im Bundestag, Peter Weiß.

Die Vereinbarung sieht vom 1. Juli an einen bundesweiten tariflichen Mindestlohn von 7,75 Euro je Stunde vor, der dann zum 1. Dezember 2014 auf 8 Euro, zum 1. Oktober auf 8,60 und bis Dezember 2016 auf 8,75 Euro steigen soll. (Dabei wird im Jahr 2017 der von der Großen Koalition angestrebte gesetzliche Mindestlohn von 8,50 je Stunde einer heutigen Kaufkraft von etwa 7,85 Euro entsprechen). Der in der fleischverarbeitenden Industrie vereinbarte Mindestlohn liegt auch mit 8,75 Euro im Dezember 2017 noch deutlich unterhalb der heutigen Niedriglohngrenze in Deutschland von 9,15 Euro.

D.h., für vier Jahre, bis Dezember 2017, Aussetzung des Kampfes für den allgemeinverbindlichen gewerkschaftlichen Flächentarifvertrag, der „anständigen“ Lohn garantiert.

Der Mindestlohn ist kein wirkungsvolles Mittel zur Armutsbekämpfung, schreibt die Süddeutsche Zeitung vom 15.1.in ihrem Kommentar zur Tarifeinigung in der Fleischindustrie: „Auch 8,50 Euro pro Stunde ermöglichen letztlich nur ein Leben am Existenzminimum. Und erst recht ist damit eine angemessene Vorsorge für das Alter nicht möglich“.

Mit diesem Ergebnis zeigt sich, dass der von der Regierung beabsichtigte Mindestlohn schon heute als Lohnleitlinie dazu dient, den Kampf für einen gewerkschaftlichen Flächentarifvertrag zu disziplinieren
und im Niedriglohnbereich festzuhalten.

Dabei machen die Arbeitgeberverbände klar, dass selbst solche Lohnanhebungen kompensiert werden müssen, z.B. durch Senkung der Lohnkosten an anderer Stelle über die Erpressung von Abweichungen und Tarifflucht aus den Flächentarifverträgen. So wie sie es im Einzelhandel vorexerziert haben mit der Durchsetzung einer neuen Niedriglohngruppe für Kolleginnen und Kollegen, die zuvor als Werkvertragsnehmer beschäftigt waren und nun zum Niedriglohntarif in den Flächentarifvertrag integriert werden.

Oder wie es die Praktiken bei Amazon zeigen, wo einem großer Teil der Beschäftigten Armutslöhne und völlig rechtlose Arbeitsverhältnisse zugemutet werden, und die mit den Mitteln des Streikbruchs und der massiven Erpressung der Kollegen die seit mehreren Monaten andauernden Streikaktionen der Kollegen bekämpfen, weil sie Verhandlungen mit ver.di für einen Flächentarifvertrag der entsprechenden Branche des Einzel- und Versandhandels verweigern.

Das Beispiel der Tarifeinigung in der fleischverarbeitenden Industrie demonstriert allen Arbeitnehmern, dass die „Korrekturen“ an der Agenda-Politik, für die besonders der beabsichtigte gesetzliche Mindestlohn steht, – so die SPDFührung, unterstützt von der Gewerkschaftsführung –, kompensiert werden durch die Fesselung der Arbeitnehmer an Armutslöhne, das Vorantreiben der Erosion der Flächentarifverträge und die Ausweitung von Lohndumping und Minijobs an anderen Stellen.

Diese Fragen stehen im Zentrum der bundesweiten Arbeitnehmerkonferenz am 15. Februar in Berlin.

Carla Boulboullé


Aus: Soziale Politik & Demokratie Nr. 313 vom 16. Januar 2014

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