Erklärung von GewerkschaftskollegInnen, SozialdemokratInnen und politisch Engagierten, die an der Europäischen Arbeiterkonferenz am 1./2. März 2014 in Paris teilgenommen haben
Am 13. März, zwei Monate vor den Wahlen zum Europa-»Parlament« erklärt Merkel – unter Verweis auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg – in ihrer Regierungserklärung: „Die europäische Einigung ist und bleibt auch im 21. Jahrhundert das große Versprechen von Frieden, von Freiheit und von Wohlstand.“
Zwei Monate vor den Wahlen sehen sich alle Völker Europas aber mit der Tatsache konfrontiert,
- dass die Ukraine und die ukrainische Bevölkerung mit ihren vielen nationalen Minderheiten in eine mörderische Konfrontation gegeneinander getrieben wird; dazu gehörte auch der provozierende Beschluss des neuen Parlaments, die russische Sprache, die fast von der Hälfte der Bevölkerung gesprochen wird, als offizielle, gleichberechtigte Sprache zu verbieten;
- dass die Politik der EU, der Großen Koalitionsregierung unter Merkel und der US-Regierung Obamas alle Bedingungen schafft, um die Ukraine einem Zerreißprozess auszuliefern.
Soll so das Land reif gemacht werden für die Schocktherapie, die ihm von EU und IWF verordnet wird?: Einsparungen im Staatshaushalt, verbunden mit massiven Einbrüchen in die sozialen Sicherungssysteme, Entlassungen und Lohnkürzungen im Öffentlichen Dienst, Zersetzung des Rentensystems und Erhöhung des Renteneintrittsalters, massive Preiserhöhungen, Privatisierungen des Öl- und Gassektors.
Wer erkennt darin nicht die »Memoranden« und Programme gegen die Arbeiterschaft und Völker Europas, wie in Portugal, Griechenland, Spanien…; wer erkennt nicht die Handschrift der EU, ihres Parlaments und der Troika in diesen antidemokratischen und sozial-zerstörerischen Programmen, mit denen die Souveränität der Völker mit Füßen getreten wird?
Von welchem Interesse sollten für sie die Wahlen für ein »Parlament« der EU sein, das den Namen »Parlament« zu Unrecht trägt, das ohne Haushalts- und Gesetzgebungsrechte eine schlechte Karikatur der parlamentarischen Demokratie ist? Ein »Parlament«, das alle Programme und Schläge gegen die Arbeiterschaft und Völker im Namen der Euro- und Bankenrettung abgedeckt?
Zum Ende seiner Legislaturperiode sind im Dezember 2013 in 24 Staaten mehr als 15 Prozent der unter-25jährigen arbeitslos. In Zypern, Italien und Kroatien sind es zwischen 40 und 50 Prozent, in Spanien 54,3 und in Griechenland 59,2 Prozent. In allen europäischen Ländern diktiert die EU, abgedeckt vom »Parlament«, die Zersetzung der Tarifverträge: die Zahl der vom Kollektivvertrag geschützten portugiesischen Arbeiter sank von 1,9 Millionen in 2008 auf noch 328.000 im Jahr 2012, in Spanien sank diese Zahl von 2008 bis 2013 auf 4,6 Millionen, so ein Vertreter der DGB-Gewerkschaften am 9. Januar vor dem „Parlament“ der EU.
Es war Deutschland, das in der Umsetzung dieser EU-Politik der Austerität/Sparpolitik und der Strukturreformen im Namen der Wettbewerbsfähigkeit eine Vorreiterrolle eingenommen hat. Die von der SPD-Schröder-Regierung im März 2003 begonnene Agenda-Politik hat den Weg geöffnet für die organisierte Tarifflucht und die Hartz-Strukturreformen, für die Schaffung eines Acht-Millionenheeres von Niedriglöhnern und eines ebenso großen Heeres von prekär Beschäftigten. Diese Politik hat Deutschland zum Land mit dem größten Niedriglohnsektor in Europa gemacht.
Doch hat sich nicht in Deutschland auch der Weg gezeigt, wie eine solche drastische Zerstörung durchgesetzt werden konnte? Die Führung der SPD, der Partei, die sich auf die Arbeitnehmerinteressen beruft, hat die SPD in die Verantwortung für die Organisierung und Umsetzung dieser arbeitnehmerfeindlichen Politik eingebunden. Die Rolle der Gewerkschaften wurde darauf reduziert, die Agenda-Politik – »protestierend« und »kritisch« – zu begleiten und den wirklichen Wider-stand auf Basis der Entfaltung der organisierten Kampfkraft der deutschen Arbeiterschaft zu verhindern.
Das ist die Blaupause für die EU, die heute alle Regierungen Europas für die Umsetzung eben dieser Agenda-Politik dazu drängt, dem deutschen Modell des institutionalisierten sozialen Dialogs, der politischen Sozialpartnerschaft nachzueifern.
Mit der Versprechung „die Europäische Union zu verändern und sie besser zu machen“ will der sozialdemokratische Spitzenkandidat, Martin Schulz, die Wähler mobilisieren. Derselbe Schulz, der aus dem »Europaparlament« heraus seit vielen Jahren für die Durchsetzung der EU-Verträge, wie Lissabon Vertrag oder Fiskal- und ESM-Vertrag, auch im deutschen Bundestag, gesorgt hat, wie auch für die Umsetzung der antidemokratischen und sozialzerstörerischen Programme der Troika.
Und die SPD-Führung verpflichtet sich mit dem Regierungsprogramms der Großen Koalition auf die beiden Kerngesetze der Agenda-Politik: die Schuldenbremse / Haushaltskonsolidierung und die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit. Diese wird von allen Landesregierungen umgesetzt und unterwirft die Kommunen, Krankenhäuser und Schulen… der Kaputtsparpolitik.
Merkel und die SPD-Minister unterstreichen im gleichen Regierungsprogramm ihre Bereitschaft und Verantwortung, diese rigide Sparpolitik und die mörderischen Strukturprogramme im Rahmen des verschärften »Stabilitäts- und Wachstumspaktes« in ganz Europa fortzusetzen. Den Beweis dafür liefern sie mit allen Regierungen der EU jetzt gegenüber der Ukraine.
Von Rechts- bis Linksaußen rufen alle Parteien auf, für die Rettung der EU und des Euro wählen zu gehen. Die Partei Die Linke sah sich genötigt, dazu ein besonderes Treuebekenntnis abzugeben.
Alle Parteien unterwerfen sich in Wort und Tat, wenn es darauf ankommt, im Parlament und spätestens in Regierungsverantwortung, dieser Euro-Rettungspolitik, deren Grundgesetze vom Finanzkapital vorgegeben werden: die schrankenlose Milliardenflutung der Finanzmärkte, der Banken und der Spekulationsfonds; ihre Finanzierung durch Spardiktate und die Deregulierung / Prekarisierung des Arbeitsmarktes.
Welches Interesse kann für die Arbeitnehmer und die Demokratie, für die arbeitende Bevölkerung und die Jugend in Deutschland, darin bestehen zu »wählen«, wenn sich dadurch nichts verändert?
Alle Parteien und die DGB-Führung rufen auf, gegen Rechts wählen zu gehen. Doch wir lassen uns nicht für dumm verkaufen: Es ist die Politik der EU selbst, abgedeckt durch ihr Parlament, die die Völker in die Verarmung treibt, die sie in einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf gegeneinander hetzt, und die damit den Nährboden schafft für rechte Demagogen.
Wir erleben, wie Flüchtlinge vor den Festungsanlagen der EU sterben. Wir erleben, dass profaschistische Elemente unter dem Schutz der EU und Merkel-Steinmeier in die ukrainische »Regierung« gehievt werden.
Mit Recht fürchten die Institutionen der EU und ihr Parlament, fürchten alle Regierungen in diesen Wahlen die Ablehnung durch die Bevölkerungen, weil diese von ihnen nichts erwarten können.
Eine Ablehnung, die im wachsenden vereinten Widerstand der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen zum Ausdruck kommt: so in Frankreich, wo die Gewerkschaftsbünde CGT und FO für den Streik am 18. März gegen Hollandes »Pakt der Verantwortung« mobilisieren; so im Lehrerstreik in Portugal, der die Regierung gezwungen hat, die von der Troika geforderten Maßnahmen zurückzunehmen; so in Madrid, wo durch Streik die Privatisierung der großen Krankenhäuser zurückgeschlagen wurde.
So in Deutschland: Wir, Arbeitnehmer, Gewerkschafter und Sozialdemokraten, unterstützen den Kampf der Kollegen des öffentlichen Dienstes und der Bauarbeiter mit ihren Gewerkschaften ver.di und IG BAU. Sie sind kampfbereit, für ihre Forderung nach kräftiger Reallohnsteigerung die Diktate der leeren Kassen / Schuldenbremse und der Wettbewerbsfähigkeit zu durchbrechen.
Der Kampf der Kollegen von Amazon und zig anderer Betriebe für ihre Befreiung von Lohndumping und prekären Arbeitsbedingungen, für Tarifverträge und für ihre Integration in den Flächentarifvertrag erfordert den Einsatz der gesamten Organisationskraft der Gewerkschaften.
Mehr denn je müssen die Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte verteidigt werden, das Recht auf freie Tarifverhandlungen und die Respektierung der allgemeinverbindlichen Flächentarifverträge. Mehr denn je verlangt das die Verteidigung der Unabhängigkeit unserer Gewerkschaften.
Wie können die 5.000 Arbeitsplätze bei der Telekom und die Industriearbeitsplätze verteidigt werden; wie die Kommunen, Krankenhäuser und Schulen gerettet werden – wenn nicht mit dem Recht der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften auf die freie Entfaltung ihrer Kampfkraft im gewerkschaftlich organisierten Streik?
Zwei Monate vor der Wahl zum EU-»Parlament« bekräftigen wir unsere auf der europäischen Arbeiterkonferenz in Paris ergriffene Position:
„Die Hoffnung der Arbeiterschaft in unseren Ländern liegt in ihrer eigenen Fähigkeit, sich mit ihren Organisationen, die ihre Unabhängigkeit bewahrt haben, zu versammeln und so den Weg für die vereinte Mobilisierung zu eröffnen, die die noch bestehenden Hindernisse beseitigen wird. Wir beschließen, ihr dabei mit all unseren Kräften zu helfen. (…)
Damit beginnen wir, die ersten Stützpunkte für eine authentische freie Union der Völker und freien Nationen ganz Europas zu schaffen; frei in unserem Handeln von jeglicher Bindung an die Troika (EU, EZB und IWF), frei und in völliger Unabhängigkeit die Rechte der Arbeitnehmer und Völker zu verteidigen.“
Wir schlagen allen GewerkschaftskollegInnen, SozialdemokratInnen und politisch Engagierten vor, auf dieser Grundlage in ihren gewerkschaftlichen und politischen Organisationen die Diskussion zu suchen für die Verwirklichung der Einheit der Arbeiterschaft und Jugend und ihrer Organisationen: im Kampf für eine Politik, die sich nicht den erpresserischen Anforderungen des Finanzkapitals und den fortgesetzten Diktaten der Schuldenbremse und Wettbewerbsfähigkeit verpflichtet, sondern allein den Interessen der arbeitenden Bevölkerung und Jugend und der Demokratie.
Comments are closed.